11.09.2017
Vergessene
Massenverbrechen in der Kriegsendphase
Treffen in
Lüdenscheid vorgeschlagen: Neuen Gedenkmarsch planen
Der
Gedenkstättenleiter der Gestapozellen im Alten
Lüdenscheider Rathaus, Matthias Wagner, hat die Initiative
ergriffen, um die Recherchen und Aktionen zur Erinnerung an fast
vergessene NS-Massenverbrechen aus dem Frühjahr 1945
voranzubringen. Ein
Gedenk-Marsch für das Leben fand vom 27.2. bis 1.3.2015 in
Südwestfalen statt. Darüber ist wenig bekannt
geworden. Es ist geplant, diese Aktion zu wiederholen. Wir informieren
über den Hintergrund des Gedenkens und über den
Aufruf von 2015:
1. Der
Beschluss:
Beschluss der
Landeskonferenz der VVN/BdA am 18. Februar 2017 in Düsseldorf:
Aufklärung über fast vergessene Massenverbrechen in
der Kriegsendphase
Die VVN-BdA in Köln, Bergisches Land,
Südwestfalen u.a. Orten werden dabei unterstützt, die
Recherchen zur Erinnerung an fast vergessene NS-Massenverbrechen aus
dem Frühjahr 1945 voranzubringen.
Die Gestapo hat auch hier im Westen
(Gestapo-Leitstelle Köln) eine (fast vergessene)
Blutspur hinterlassen. Von Köln aus wurden
mindestens 700 - nach mündlichen Angaben von Zeitzeugen mehr
als tausend - Gefangene aus Belgien, den Niederlanden, Luxemburg und
dem Rheinland vor den heranrückenden Westmächten
durch das Bergische Land, z.B. Wipperfürth und
Lindlar-Berghausen/Kaiserau (wo eine Massenhinrichtung stattfand) in
das älteste AEL Lüdenscheid-Hunswinkel und zu dem ca.
2 km entfernten Exekutionsort Hühnersiepen getrieben, wo im
März und frühen April 1945 ca. 300 hingerichtet
wurde. Heute ist der entlegene Fleck eine kleine
Kriegsgräberstätte. Es wäre sinnvoll, einmal
das Einzelwissen, das kürzlich teilweise entdeckt wurde, bei
einem Treffen zusammenzubringen. Denn leider gibt es über
diesen Bereich in den Landesarchiven sehr wenige Informationen.
Matthias Wagner
Der Text des Initiativantrages wurde von der
Landesdelegiertenkonferenz der VVN-BdA NRW beschlossen.
--> siehe auch: http://www.nrw.vvn-bda.de/texte/1723_ldk2017_initiativantrag2.htm
2. Der Flyer
von 2015

70 Jahre nach
der Vertreibung von NS-Häftlingen des Rheinlands ins AEL
Lüdenscheid-Hunswinkel (heute: Versetalsperre, Nähe
Klamer Brücke)
Im Arbeitserziehungslager Lüd.-Hunswinkel
kamen mindestens zwei jüdische Rheinländer ums Leben:
Der Kaufmann Israel Servos aus Bonn (7.7.1886-1.4.1945) und Bertha
Schlaus (1.6.1874-4.4.1945) aus Mehlem. Grabsteine auf dem
Lagerfriedhof Hühnersiepen erinnern an sie. Elly
Bockemühl (Eitorf/Köln), die aus politischen
Gründen inhaftiert war, gab am 6.9.1984 dem Historiker Peter
Witte (Hemer) zu Protokoll:
„Da
waren luxemburgische und belgische Juden. Die durften immer nur um die
Baracke rumgehen und auch nicht mit uns sprechen. Da sagte ich schon
immer: Das sind aber feine Leute! Die waren sehr gut angezogen. Eines
Morgens hören wir es knallen. Da haben die die ganze Baracke
erschossen. Die ganzen Frauen. Und die mussten sich nackend ausziehen.
Wo die geblieben sind, das weiß ich nicht.“
Zu dem Bericht passt der von dem ehemaligen
Zwangsarbeiter Victor Kapljuk, der Ende 1944 in das Lager eingewiesen
wurde und 1993 im Rahmen der Städtepartnerschaft zwischen
seiner Heimatstadt Taganrog und der Partnerstadt Lüdenscheid
folgenden Bericht gab:
„Dann
wurde ich nach Lüdenscheid gebracht. Als ich zum Staudamm der
Versetalsperre kam, waren die Arbeiten daran schon beendet. Neben dem
Lager Hunswinkel war ein Bauernhof. Die Baracken wurden demontiert. Die
Einzelteile der Baracken wurden zum Bahnhof nach Lüdenscheid
gebracht und dort verladen. Ich musste die Baracken abbauen. Es waren
insgesamt 25, in denen die Arbeiter gewohnt hatten, die den Damm gebaut
hatten. Als ich dort ankam, gab es keine Arbeiter mehr, nur noch wir
34, die die Baracken abbauen sollten. Innerhalb von drei Monaten haben
wir bis zum Januar 15 Baracken abgebaut. Als sich im Februar 1945 schon
die Amerikaner (von Aachen aus, d. VF.) näherten, wurden
Deutsche von Soldaten und der Gestapo aus Köln nach
Lüdenscheid evakuiert. Die übrig gebliebenen Baracken
füllten sich wieder mit Gefangenen aus Köln. Man hat
uns gezwungen, dort Gräber auszuheben. Die waren für
die Kölner Flüchtlinge (richtig: Häftlinge,
d. Vf.) bestimmt, die dort erschossen wurden. Ich kann mich noch an 30
Mädchen erinnern, die in Handschellen zum Erschießen
geführt worden sind. 350 Menschen sind dort ums Leben
gekommen. Und es gab 50-60 Leute, die über die
Straße gegangen kamen und nicht aus dem Lager stammten. Sie
mussten sich zunächst auf den Boden setzen und warten, bis wir
die Gräber ausgehoben hatten, und dann wurden sie erschossen.
Nur einer von denen ist am Leben geblieben. Ich habe ihn drei Monate
später wiedergesehen.“
Der britische Offizier B. N. Reckitt kam mit der
1. US-Armee am 11.4.1945 in das Lager:
„Ein
einarmiger Priester begrüßte uns in seiner Rolle als
Lagerführer. Die Gestapo-Wachen waren geflohen und er war erst
mit einer Gruppe Juden, Holländern und
Holländerinnen, dort gerade erst hingekommen nach einem
einwöchigen Fußmarsch von Köln und
praktisch ohne Verpflegung. Einige aus seiner Gruppe waren unterwegs
gestorben. Im Lager waren noch einige der ursprünglichen
Insassen verblieben, die wegen geringfügiger politischer
Verbrechen, oder nur weil sie jüdische Blutsverwandte hatten
dort waren. Ein deutsches Mädchen von ungefähr 17
Jahren war Mitglied einer Untergrundbewegung gewesen und war mit Recht
stolz darauf. Einige waren so abgemagert, dass über ihren
Knochen statt Fleisch nur noch Haut war. Sie waren gerade noch in der
Lage zu laufen, ganz langsam und mit wackelndem, unsicherem
Gang.“ (Grete Humbach war im Kölner
Widerstand und im AEL Hunswinkel. Sie kann die genannte junge Frau
sein.)
Nach Hochrechnungen waren mehr als 5.000
Häftlinge in dem ersten Arbeitserziehungslager der NS-Zeit, in
das am 24.8.1940 die ersten deutschen Häftlinge für
jeweils 6 Wochen kamen. Vom Frühjahr 1942 an wurden hier
meistens osteuropäische Häftlinge für 12
Wochen eingewiesen, von denen viele durch zu schwere Arbeit, Hunger,
Prügel und Exekutionen starben. Zwei Dokumente belegen, dass
die Gesamtzahl der Todesopfer zwischen 512 und ca. 550 liegt.
Wenn man den oben genannten Erinnerungen Glauben
schenkt, dann starben 2/5 der Opfer an den Lagerbedingungen und 3/5
durch Exekutionen, die von den Gestapo-Leitstellen Dortmund und
Köln befohlen waren.
3. Das
damalige Programm:
Gedenk-Marsch für das Leben:
Zur Erinnerung für die
Menschenwürde
Freitag 27.2.15 um 15 Uhr:
Ab Kulturhaus Lüdenscheid, Fahrt mit Bus
über ZOB Wipperfürth zur Gedenkstätte
EL-DE-Haus in Köln. Dort Führung und Vortrag zu der
Räumung der Lager und Gefängnisse.
Ca. 20 Uhr Rückfahrt über ZOB
Wipperfürth und Ankunft 21 Uhr am Kulturhaus.
Samstag, den 28.2. um 9 Uhr:
Ab Kulturhaus über ZOB
Wipperfürth bis zur S- Bahnstation in Bensberg, von dort ca.
25 km nach Wipperfürth. Dort Imbiss und Vortrag.
Rückfahrt ca. 19.30 Uhr, Ankunft am Kulturhaus ca. 20.15 h.
Sonntag, den 1.3. um 9.30 Uhr:
Ab Kulturhaus und um 10 Uhr ab ZOB
Wipperfürth zu Fuß nach Lüdenscheid ca. 25
km. Dort im Museum (?) um 17 Uhr Imbiss und Kurzvortrag. Ende um 18
Uhr. Um eine Kostenbeteiligung für die Fahrt und den Imbiss
von je 5 € pro Tag wird gebeten. Bei Regen fallen die
Wanderungen aus, jedoch nicht die Vorträge.
Verantwortlich: Ge-Denk-Zellen Altes Rathaus
Lüdenscheid e.V.
Siehe auch:
03.09.2017
„Hunderte
Menschen sind dort ums Leben gekommen“ –
Täter: Ruhrtalsperrenverband
Zur Errichtung
des Ersatzmahnmals Hunswinkel/Klamer Brücke am 21.6.2017
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