03.09.2017
„Hunderte Menschen
sind dort ums Leben gekommen“ – Täter:
Ruhrtalsperrenverband
Zur
Errichtung des Ersatzmahnmals Hunswinkel/Klamer Brücke am
21.6.2017
Im Schuljahr 1978/79 fragten
Schüler*innen des Geschichtskurses am Lüdenscheider
Bergstadtgymnasium: „Warum gibt es hier einen Russenfriedhof,
wenn sich hier nie ein Frontabschnitt gegen die Sowjetunion
befand?“ Der Lehrer wusste keine Antwort und versprach, sie
zu suchen. Erst heute ist sie zum Teil möglich.
Die erste Zwischenstation war die Erforschung des
Lebens der 114 jüdischen Lüdenscheider. Dabei
wurde offenkundig, dass es am Ende des Krieges auch zu
Sterbefällen jüdischer Menschen in
Lüdenscheid-Hunswinkel kam. Deshalb lud im August 1990 Herr
Bürgermeister Dietrich die Lüdenscheider zu einem
einmaligen Gedenken des Rates der Stadt auf den dortigen Friedhof ein.
Die zweite Station war eine Ausstellung im Rathaus
über die Zwangsarbeiter*innen zu Beginn der 1990er Jahre.
Darin wurde eine Liste der in Lüdenscheid Verstorbenen
gezeigt, die ich mit Schüler*innen nach den
Sterbebüchern erstellt hatte. Auf Anweisung des Rathauses
musste das Verzeichnis anonymisiert werden. Als ich 1997 in der
Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer
Verbrechen in Ludwigsburg eine ähnliche Liste fand,
veröffentlichte ich den damaligen Kenntnisstand, der mit
Schüler*innen erarbeitet wurde, in dem Buch „Arbeit
macht frei -Zwangsarbeit in Lüdenscheid“ 1997, das
vom Heimatverein mit Unterstützung des Stadtarchivars Dieter
Saal veröffentlicht wurde. Nach den damals vorliegenden
Dokumenten war das Ergebnis, dass ca. 550 Menschen aus verschiedenen
Ländern dort in Hunswinkel und Hühnersiepen ihr Leben
lassen mussten und ca. 5000 dort inhaftiert waren. Durch die Kritik
vertrauenswürdiger Lüdenscheider, die sich die hohe
Zahl der Lagertoten nicht erklären konnten und durch das
Studium weiterer Dokumente, die ich in dem immer besser erschlossenen
Hauptstaatsarchiv NRW fand, ergibt sich ein neues Bild.
Dazu trug wesentlich Frau Hesse (Bremecke bei
Hühnersiepen) bei, die am Kriegsende folgendes erlebte:
„Am Ende des Krieges wurde ich 9 Jahre alt. In unserer
Gast-und Bauernwirtschaft half ein junges polnisches Mädchen
(Fremdarbeiterin). Eines Tages kam sie weinend heim und berichtete
‚Oben auf Hühnersiepen werden Frauen und Kinder
erschossen, keine Russen, sondern Deutsche.’ Deshalb halte
ich den Namen Russenfriedhof für falsch.“
Das wurde z.T. durch neue Forschungen belegt, aber
auch korrigiert. Im Bundesarchiv wird ein Dokument aufbewahrt, nach dem
der Gestapo-Kommissar Nordstern im März 1945 Russen vom
Gefängnis Siegburg über Lindlar-Kaiserau-Berghausen
ins Lager Hunswinkel getrieben hat. Von dort mussten sie den Kilometer
bis zur Berghöhe Hühnersiepen aufsteigen, wo sie
exekutiert wurden oder einer von ihnen die anderen erschießen
musste. Im Angesicht der nahenden Westfront war der Ort für
Hinrichtungen – vermutlich auf der
NSDAP-Kreisleiter-Konferenz vom 31.12.1044 am Versedamm (vermutlich im
Gebäude des Ruhrtalsperrenverbands) - beschlossen worden.
Dafür hatte das Amt Lüdenscheid-Land im Herbst 1944
das Gebiet zwischen Treckinghausen und Hühnersiepen von der
Gräfin von dem Busche erworben. Die dort in
Massengräbern beerdigten Personen sind also in der Regel keine
Lagertoten, sondern ca. 300 Exekutionsopfer der letzten sechs
Kriegswochen, bevor die amerikanischen Truppen am 10. April das Lager
Hunswinkel erreichten. Dessen ca. 200 Lagertote wurden zu einem kleinen
Teil (29 Grabplatten) auf dem Waldfriedhof Loh (kommunaler Friedhof in Lüdenscheid) beigesetzt.
Der größere Teil wurde irgendwo verscharrt, wo er
auf der Flucht erschossen oder gestorben war, manche im Zement der
Staumauer, wie zwei Lüdenscheider erzählten. Im
November 1944 wurde das Lager Hunswinkel von der Gestapo Dortmund ins
Lager Sanssouci (Hönnetal) verlegt. Im Frühjahr 1945
wurde ein Teil der Baracken demontiert und wegtransportiert.
Nach Forschungen im Kölner Raum ergibt
sich die Tatsache, dass die Gestapo Köln aus Belgien, den
Niederlanden (KZ Herzogenbosch u.a.) und Luxemburg über Aachen
viele Inhaftierte in Gefängnisse des Köln-Bonner
Raums brachte. Am Ende des Krieges trieben mehrere Gestapokommissare
aus Köln ca. eintausend Gefangene über
Lindlar-Kaiserau-Berghausen und über Wipperfürth zur
Hinrichtung oder Haft nach Hunswinkel und Hühnersiepen. Dazu
gibt es Belege aus Brauweiler, dem Gefängnis
Klingelpütz, dem rheinischen Judenlager
Müngersdorf und dem Gefängnis Siegburg.
Vermutlich kamen aber auch aus anderen Haftanstalten wie dem AEL
Müngersdorf und dem Durchgangslager für
Zwangsarbeiter in Bonn-Beuel die Gefangenen hierher. Erst im Mai 2017
konnte ich neue Dokumente dafür finden. (Besonders:
Staatsarchiv NRW: Gerichte Rep. 248 Nr. 270) Es ist also sehr
wahrscheinlich, dass nicht nur die zwei bekannten jüdischen
Bürger aus dem Bonner Raum
hier ihren Tod fanden, sondern auch noch weitere,
die wir nicht kennen. So ist Hühnersiepen auch ein Teil des
Holocaust. Das berichtete die politische Gefangen Elly
Bockemühl (Eitorf/Köln) am 6.9.1984: „Da
waren luxemburgische und belgische Juden. Die durften immer nur um die
Baracke rumgehen und auch nicht mit uns sprechen. (…) Die
waren sehr gut angezogen. Eines Morgens, da hören wir es
knallen. Da haben die die ganze Baracke erschossen.“ (aus:
„Arbeit macht frei“, S. 89)
Beim Besuch ehemaliger Zwangsarbeiter aus Taganrog
1993 in Lüdenscheid berichtete der frühere
Zwangsarbeiter Viktor Kapljuk: „Als sich im Februar 1945
schon die Amerikaner näherten, wurden Deutsche von Soldaten
und der Gestapo aus Köln nach Lüdenscheid
evakuiert. Die übriggebliebenen Baracken
füllten sich wieder mit Gefangenen aus Köln. Den Berg
hoch, da war der Friedhof (Hühnersiepen). Man hat uns
gezwungen dort Gräber auszuheben. Die waren für die
Kölner Flüchtlinge (richtig: Gefangenen) bestimmt,
die dort erschossen wurden. Ich kann mich noch an 30 Mädchen
erinnern, die in Handschellen zum Erschießen geführt
worden sind. 350 Menschen sind dort ums Leben gekommen.“ (S.
89f)
Hunswinkel mit Hühnersiepen ist also der
Ort der größten NS-Kriegsendverbrechen in NRW, wo
mehr als 300 Menschen z.T. von Mitgefangenen, z.T. von der Gestapo
hingerichtet wurden. Jedes Jahr findet in der Dortmunder
Bittermark/Rombergpark eine große Feier mit Besuchen vieler
Vertreter der Landesregierung und der Stadt Dortmund am Karfreitag
statt. Die Zahl der in Hühnersiepen Ermordeten ist nach
heutigem Wissen höher als die der Opfer im Rombergpark, ohne
dass hier von offizieller Seite daran jährlich besonders
erinnert wird. Da das Versetal im Winter und Frühjahr 1945
weitgehend menschenleer war und die Täter von
auswärts kamen, wurde das große Kriegsendverbrechen
kaum wahrgenommen und weitgehend verdrängt. Zum Glück
erinnern das alte und neue Mahnmal Hunswinkel an die tödliche
nationalsozialistischen Politik damals in unserer Stadt, wo es ca. 300
exekutierte, ca. 600 inhaftierte und ca. 100 abgewiesene
Häftlinge aus dem Köln-Bonner Raum gab. Die
Abgewiesenen mussten nach Wuppertal laufen.
Die Friedensgruppe lädt alle ein, jedes
Jahr zur Errichtung des Denkmals am 21.6.1997/2017 der ca. 550
Todesopfer von Hunswinkel und Hühnersiepen hier zu gedenken.
Das ist der Jahrestag vor dem mörderischen Angriff auf die
Sowjetunion 1941. Damit begann auch der Holocaust, weil das
nationalsozialistische Deutschland erklärte, den
„jüdischen Bolschewismus“ in Russland zu
besiegen. Zweitens sind alle jedes Jahr am ersten Sonntag im September
auf den Friedhof Hühnersiepen eingeladen, um dort der meist
anonymen Toten des Kriegsendes zu gedenken und über die
Friedensfrage heute nachzudenken.
Nach zwei Dingen sollten wir noch für
unser Wissen von der Entwicklung Lüdenscheids fragen und
forschen:
1. Das Lagerfoto, das nach Angaben des
verstorbenen Stadtfotografen Heinrich Thoma das Lager Hunswinkel zeigt,
wurde 1993 von drei ehemaligen russischen Zwangsarbeitern aus der
Lüdenscheider Partnerstadt Taganrog bestätigt. Die
Zweifler meinen, dass es das Reichsarbeitsdienstlager Bierbaum zeigt.
Wer hätte dann noch ein Foto des Lagers Hunswinkel? Bisher ist
kein anderes bekannt.
2. Zusammen mit russischen und anderen Freunden
und dem EL-DE Haus in Köln suchen wir – auch im
Internet - nach den Namen von mehr als 400 Opfern von Hunswinkel und
Hühnersiepen, die noch unbekannt sind. Wer dabei mithelfen
möchte, ist herzlich willkommen.
Ge-Denk-Zellen Altes Rathaus e.V. und
Friedensgruppe Lüdenscheid zum 21.6.2017, dem Tag der
Erneuerung des Mahnmals Hunswinkel an der Klamer Brücke. i.A.
Matthias Wagner
Anhang:
1. Liste der bekannten Toten
Die folgende Tabelle enthält weniger als
10 % der weitgehend unbekannten Opfer der letzten sechs Kriegswochen
des AEL Hunswinkel, von Hellersen, Treckinghausen und der
Hinrichtungsstätte Hühnersiepen:
Die Namen der Liste sind dem Verzeichnis des
Gräberfelds von Hühnersiepen entnommen. Die oft
höher genannte Zahl von angeblich bekannten Todesopfern konnte
inhaltlich nicht erschlossen werden.
Gegen Ende des Krieges wurden für die
Verlegung von osteuropäischen Zwangsarbeitern nur noch Zahlen
und keine Namen mehr angegeben. So gibt ein Dokument des Bundesarchivs
darüber Auskunft, dass 23 Russen von Siegburg zur Exekution
nach Hunswinkel gebracht wurden. Ihre Namen kennen wir nicht.
2. Karteikarte R. K.
Karteikarte der Besatzungszeit in
Lüdenscheid. Zwischen 1945 und 1949 für die
Wiedergutmachungsakten angelegt. (Quelle:
„Lüdenscheider Jüdinnen und
Juden“, M. Wagner)
3. Vermutliches Lagerfoto
Das Lager. (Quelle des Fotos: Stadtarchiv
Lüd.)
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