Heartfield: "Millionen stehen hinter Hitler"

Rallye „Spurensuche Verbrechen der Wirtschaft 1933-1945“

Ein Projekt der VVN/BdA NRW

 

03.09.2017

„Hunderte Menschen sind dort ums Leben gekommen“ – Täter: Ruhrtalsperrenverband

Zur Errichtung des Ersatzmahnmals Hunswinkel/Klamer Brücke am 21.6.2017

Im Schuljahr 1978/79 fragten Schüler*innen des Geschichtskurses am Lüdenscheider Bergstadtgymnasium: „Warum gibt es hier einen Russenfriedhof, wenn sich hier nie ein Frontabschnitt gegen die Sowjetunion befand?“ Der Lehrer wusste keine Antwort und versprach, sie zu suchen. Erst heute ist sie zum Teil möglich.

Die erste Zwischenstation war die Erforschung des Lebens der 114 jüdischen Lüdenscheider. Dabei wurde offenkundig, dass es am Ende des Krieges auch zu Sterbefällen jüdischer Menschen in Lüdenscheid-Hunswinkel kam. Deshalb lud im August 1990 Herr Bürgermeister Dietrich die Lüdenscheider zu einem einmaligen Gedenken des Rates der Stadt auf den dortigen Friedhof ein.

Die zweite Station war eine Ausstellung im Rathaus über die Zwangsarbeiter*innen zu Beginn der 1990er Jahre. Darin wurde eine Liste der in Lüdenscheid Verstorbenen gezeigt, die ich mit Schüler*innen nach den Sterbebüchern erstellt hatte. Auf Anweisung des Rathauses musste das Verzeichnis anonymisiert werden. Als ich 1997 in der Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg eine ähnliche Liste fand, veröffentlichte ich den damaligen Kenntnisstand, der mit Schüler*innen erarbeitet wurde, in dem Buch „Arbeit macht frei -Zwangsarbeit in Lüdenscheid“ 1997, das vom Heimatverein mit Unterstützung des Stadtarchivars Dieter Saal veröffentlicht wurde. Nach den damals vorliegenden Dokumenten war das Ergebnis, dass ca. 550 Menschen aus verschiedenen Ländern dort in Hunswinkel und Hühnersiepen ihr Leben lassen mussten und ca. 5000 dort inhaftiert waren. Durch die Kritik vertrauenswürdiger Lüdenscheider, die sich die hohe Zahl der Lagertoten nicht erklären konnten und durch das Studium weiterer Dokumente, die ich in dem immer besser erschlossenen Hauptstaatsarchiv NRW fand, ergibt sich ein neues Bild.

Dazu trug wesentlich Frau Hesse (Bremecke bei Hühnersiepen) bei, die am Kriegsende folgendes erlebte: „Am Ende des Krieges wurde ich 9 Jahre alt. In unserer Gast-und Bauernwirtschaft half ein junges polnisches Mädchen (Fremdarbeiterin). Eines Tages kam sie weinend heim und berichtete ‚Oben auf Hühnersiepen werden Frauen und Kinder erschossen, keine Russen, sondern Deutsche.’ Deshalb halte ich den Namen Russenfriedhof für falsch.“

Das wurde z.T. durch neue Forschungen belegt, aber auch korrigiert. Im Bundesarchiv wird ein Dokument aufbewahrt, nach dem der Gestapo-Kommissar Nordstern im März 1945 Russen vom Gefängnis Siegburg über Lindlar-Kaiserau-Berghausen ins Lager Hunswinkel getrieben hat. Von dort mussten sie den Kilometer bis zur Berghöhe Hühnersiepen aufsteigen, wo sie exekutiert wurden oder einer von ihnen die anderen erschießen musste. Im Angesicht der nahenden Westfront war der Ort für Hinrichtungen – vermutlich auf der NSDAP-Kreisleiter-Konferenz vom 31.12.1044 am Versedamm (vermutlich im Gebäude des Ruhrtalsperrenverbands) - beschlossen worden. Dafür hatte das Amt Lüdenscheid-Land im Herbst 1944 das Gebiet zwischen Treckinghausen und Hühnersiepen von der Gräfin von dem Busche erworben. Die dort in Massengräbern beerdigten Personen sind also in der Regel keine Lagertoten, sondern ca. 300 Exekutionsopfer der letzten sechs Kriegswochen, bevor die amerikanischen Truppen am 10. April das Lager Hunswinkel erreichten. Dessen ca. 200 Lagertote wurden zu einem kleinen Teil (29 Grabplatten) auf dem Waldfriedhof Loh (kommunaler Friedhof in Lüdenscheid) beigesetzt. Der größere Teil wurde irgendwo verscharrt, wo er auf der Flucht erschossen oder gestorben war, manche im Zement der Staumauer, wie zwei Lüdenscheider erzählten. Im November 1944 wurde das Lager Hunswinkel von der Gestapo Dortmund ins Lager Sanssouci (Hönnetal) verlegt. Im Frühjahr 1945 wurde ein Teil der Baracken demontiert und wegtransportiert.

Nach Forschungen im Kölner Raum ergibt sich die Tatsache, dass die Gestapo Köln aus Belgien, den Niederlanden (KZ Herzogenbosch u.a.) und Luxemburg über Aachen viele Inhaftierte in Gefängnisse des Köln-Bonner Raums brachte. Am Ende des Krieges trieben mehrere Gestapokommissare aus Köln ca. eintausend Gefangene über Lindlar-Kaiserau-Berghausen und über Wipperfürth zur Hinrichtung oder Haft nach Hunswinkel und Hühnersiepen. Dazu gibt es Belege aus Brauweiler, dem Gefängnis Klingelpütz, dem rheinischen Judenlager Müngersdorf  und dem Gefängnis Siegburg. Vermutlich kamen aber auch aus anderen Haftanstalten wie dem AEL Müngersdorf und dem Durchgangslager für Zwangsarbeiter in Bonn-Beuel die Gefangenen hierher. Erst im Mai 2017 konnte ich neue Dokumente dafür finden. (Besonders: Staatsarchiv NRW: Gerichte Rep. 248 Nr. 270) Es ist also sehr wahrscheinlich, dass nicht nur die zwei bekannten jüdischen Bürger aus dem Bonner Raum

hier ihren Tod fanden, sondern auch noch weitere, die wir nicht kennen. So ist Hühnersiepen auch ein Teil des Holocaust. Das berichtete die politische Gefangen Elly Bockemühl (Eitorf/Köln) am 6.9.1984: „Da waren luxemburgische und belgische Juden. Die durften immer nur um die Baracke rumgehen und auch nicht mit uns sprechen. (…) Die waren sehr gut angezogen. Eines Morgens, da hören wir es knallen. Da haben die die ganze Baracke erschossen.“ (aus: „Arbeit macht frei“, S. 89)

Beim Besuch ehemaliger Zwangsarbeiter aus Taganrog 1993 in Lüdenscheid berichtete der frühere Zwangsarbeiter Viktor Kapljuk: „Als sich im Februar 1945 schon die Amerikaner näherten, wurden Deutsche von Soldaten und der Gestapo aus Köln nach Lüdenscheid evakuiert.  Die übriggebliebenen Baracken füllten sich wieder mit Gefangenen aus Köln. Den Berg hoch, da war der Friedhof (Hühnersiepen). Man hat uns gezwungen dort Gräber auszuheben. Die waren für die Kölner Flüchtlinge (richtig: Gefangenen) bestimmt, die dort erschossen wurden. Ich kann mich noch an 30 Mädchen erinnern, die in Handschellen zum Erschießen geführt worden sind. 350 Menschen sind dort ums Leben gekommen.“ (S. 89f)

Hunswinkel mit Hühnersiepen ist also der Ort der größten NS-Kriegsendverbrechen in NRW, wo mehr als 300 Menschen z.T. von Mitgefangenen, z.T. von der Gestapo hingerichtet wurden. Jedes Jahr findet in der Dortmunder Bittermark/Rombergpark eine große Feier mit Besuchen vieler Vertreter der Landesregierung und der Stadt Dortmund am Karfreitag statt. Die Zahl der in Hühnersiepen Ermordeten ist nach heutigem Wissen höher als die der Opfer im Rombergpark, ohne dass hier von offizieller Seite daran jährlich besonders erinnert wird. Da das Versetal im Winter und Frühjahr 1945 weitgehend menschenleer war und die Täter von auswärts kamen, wurde das große Kriegsendverbrechen kaum wahrgenommen und weitgehend verdrängt. Zum Glück erinnern das alte und neue Mahnmal Hunswinkel an die tödliche nationalsozialistischen Politik damals in unserer Stadt, wo es ca. 300 exekutierte, ca. 600 inhaftierte und ca. 100 abgewiesene Häftlinge aus dem Köln-Bonner Raum gab. Die Abgewiesenen mussten nach Wuppertal laufen.

Die Friedensgruppe lädt alle ein, jedes Jahr zur Errichtung des Denkmals am 21.6.1997/2017 der ca. 550 Todesopfer von Hunswinkel und Hühnersiepen hier zu gedenken. Das ist der Jahrestag vor dem mörderischen Angriff auf die Sowjetunion 1941. Damit begann auch der Holocaust, weil das nationalsozialistische Deutschland erklärte, den „jüdischen Bolschewismus“ in Russland zu besiegen. Zweitens sind alle jedes Jahr am ersten Sonntag im September auf den Friedhof Hühnersiepen eingeladen, um dort der meist anonymen Toten des Kriegsendes zu gedenken und über die Friedensfrage heute nachzudenken.

Nach zwei Dingen sollten wir noch für unser Wissen von der Entwicklung Lüdenscheids fragen und forschen:

1. Das Lagerfoto, das nach Angaben des verstorbenen Stadtfotografen Heinrich Thoma das Lager Hunswinkel zeigt, wurde 1993 von drei ehemaligen russischen Zwangsarbeitern aus der Lüdenscheider Partnerstadt Taganrog bestätigt. Die Zweifler meinen, dass es das Reichsarbeitsdienstlager Bierbaum zeigt. Wer hätte dann noch ein Foto des Lagers Hunswinkel? Bisher ist kein anderes bekannt.

2. Zusammen mit russischen und anderen Freunden und dem EL-DE Haus in Köln suchen wir – auch im Internet - nach den Namen von mehr als 400 Opfern von Hunswinkel und Hühnersiepen, die noch unbekannt sind. Wer dabei mithelfen möchte, ist herzlich willkommen.

Ge-Denk-Zellen Altes Rathaus e.V. und Friedensgruppe Lüdenscheid zum 21.6.2017, dem Tag der Erneuerung des Mahnmals Hunswinkel an der Klamer Brücke. i.A. Matthias Wagner

Anhang:

1. Liste der bekannten Toten

Die folgende Tabelle enthält weniger als 10 % der weitgehend unbekannten Opfer der letzten sechs Kriegswochen des AEL Hunswinkel, von Hellersen, Treckinghausen und der Hinrichtungsstätte Hühnersiepen:

Liste der bekannten Toten

Die Namen der Liste sind dem Verzeichnis des Gräberfelds von Hühnersiepen entnommen. Die oft höher genannte Zahl von angeblich bekannten Todesopfern konnte inhaltlich nicht erschlossen werden.

Gegen Ende des Krieges wurden für die Verlegung von osteuropäischen Zwangsarbeitern nur noch Zahlen und keine Namen mehr angegeben. So gibt ein Dokument des Bundesarchivs darüber Auskunft, dass 23 Russen von Siegburg zur Exekution nach Hunswinkel gebracht wurden. Ihre Namen kennen wir nicht.

2. Karteikarte R. K.

Karteikarte Ruth Krämer

Karteikarte der Besatzungszeit in Lüdenscheid. Zwischen 1945 und 1949 für die Wiedergutmachungsakten angelegt. (Quelle: „Lüdenscheider Jüdinnen und Juden“, M. Wagner)

3. Vermutliches Lagerfoto

Vermutliches Lagerfoto

Das Lager. (Quelle des Fotos: Stadtarchiv Lüd.)