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17.01.2018

Todesmarsch von Köln ins Sauerland: 39 Jahre Forschung zum AEL Hunswinkel

Ein Forschungsbericht aus den Lüdenscheider Nachrichten vom 23. Juni 2017: Der Autor Matthias Wagner erforschte in Köln, Lüdenscheid und weiteren Orten bisher Unbekanntes

39 Jahre Forschung zum AEL Hunswinkel

Verein „Ge-Denk-Zellen Altes Rathaus" und Friedensgruppe zur Errichtung des Ersatzmahnmals Hunswinkel/Klamer Brücke 

Von Matthias Wagner 

LÜDENSCHEID • Zur Erneuerung des Mahnmals Hunswinkel an der Klamer Brücke mit offizieller Einweihung durch die Stadt Lüdenscheid in dieser Woche (siehe 5. Lokalseite) möchte ich im Auftrag des Vereins „Ge-Denk- Zellen Altes Rathaus" und der Friedensgruppe Lüdenscheid einen Überblick über die fast 40jährige Forschung zum Arbeitserziehungslager (AEL) Hunswinkel und Friedhof Hühnersiepen geben:

Im Schuljahr 1978/79 fragten mich Schülerinnen und Schüler des Geschichtskurses am Bergstadt-Gymnasium: „Warum gibt es hier einen Russenfriedhof, wenn sich hier nie ein Frontabschnitt gegen die Sowjetunion befand?“ Ich wusste keine Antwort und versprach, sie zu suchen. Erst heute kann ich sie gut zur Hälfte geben. Das war ein langer Weg durch viele Archive und Orte und über viele Zwischenstationen.

Die erste Zwischenstation war die Erforschung des Lebens der 114 jüdischen Lüdenscheider. Dabei wurde offenkundig, dass es am Ende des Krieges auch zu Sterbefällen jüdischer Menschen in Lüdenscheid-Hunswinkel kam. Deshalb lud im August 1990 Bürgermeister Jürgen Dietrich die Lüdenscheider zu einem einmaligen Gedenken des Rates der Stadt auf den dortigen Friedhof ein.

Die zweite Station war eine Ausstellung im Rathaus über die Zwangsarbeiter zu Beginn der 1990er-Jahre. Darin wurde eine Liste der hier Verstorbenen gezeigt, die ich mit Schülern nach den Sterbebüchern erstellt hatte. Auf Anweisung des Rathauses musste das Verzeichnis anonymisiert werden.

Als ich 1997 in der Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg eine ähnliche Liste fand, veröffentlichte ich den damaligen Kenntnisstand, der zu einem guten Teil mit verschiedenen Schülern erarbeitet wurde, in dem Buch „Arbeit macht frei - Zwangsarbeit in Lüdenscheid“ 1997, das vom Heimatverein mit Unterstützung des Stadtarchivars Dieter Saal veröffentlicht wurde. In dem Buch kam ich nach den damals vorliegenden Dokumenten zu der Aussage, dass circa 550 Menschen aus verschiedenen Ländern dort ihr Leben lassen mussten und circa 5000 dort inhaftiert waren. Durch die Kritik vertrauenswürdiger Lüdenscheider, die sich die hohe Zahl der Lagertoten nicht erklären konnten und durch das Studium weiterer Dokumente, die ich in dem immer besser erschlossenen Hauptstaatsarchiv NRW fand, ergab sich ein neues Bild.

Dazu trug wesentlich Frau Hesse bei, die am Kriegsende folgendes erlebte: „Am Ende des Krieges wurde ich neun Jahre alt. In unserer Gast- und Bauernwirtschaft half ein junges polnisches Mädchen (Zwangs-/Fremdarbeiterin). Eines Tages kam sie weinend zurück und berichtete: ‚Oben auf Hühnersiepen werden Frauen und Kinder erschossen, keine Russen, sondern Deutsche.’ Deshalb halte ich den Namen Russenfriedhof für falsch.“ Nach Forschungen im Bundesarchiv ließ sich die Aussage zum Teil widerlegen, weil dort ein Dokument aufbewahrt wird, nach dem der Gestapo-Kommissar Nordstern Russen vom Gefängnis Siegburg über Lindlar-Kaiserau-Berghausen ins Lager Hunswinkel getrieben hat. Von dort mussten sie den Kilometer bis zur Berghöhe Hühnersiepen aufsteigen, wo sie exekutiert wurden oder einer von ihnen die anderen erschießen musste.

Im Angesicht der nahenden Westfront war der Ort für Hinrichtungen - vermutlich auf der NSDAP-Kreisleiterkonferenz vom 31. Dezember 1944 am Versedamm (vermutlich im Gebäude des Ruhrtalsperrenverbands) - beschlossen worden. Dafür hatte das Amt Lüdenscheid-Land im Herbst 1944 das Gebiet von der Gräfin von dem Busche erworben.

Die dort in Massengräbern beerdigten Personen sind also in der Regel keine Lagertoten, sondern 300 Exekutionsopfer der letzten sechs Kriegswochen, bevor die amerikanischen Truppen am 10. April das Lager Hunswinkel erreichten. Dessen circa 200 Lagertote wurden zu einem kleinen Teil (29 Grabplatten) auf dem Waldfriedhof beigesetzt. Der größere Teil wurde irgendwo verscharrt, wo er auf der Flucht erschossen oder gestorben war, manche im Zement der Staumauer, wie zwei Lüdenscheider erzählten.

Im November 1944 wurde das Lager Hunswinkel von der Gestapo Dortmund ins Lager Sanssouci verlegt. Im Frühjahr 1945 wurde circa die Hälfte der Baracken demontiert und wegtransportiert.

Nach Forschungen im Kölner Raum ergibt sich die Tatsache, dass die Gestapo aus Belgien, den Niederlanden und Luxemburg über Aachen viele Inhaftierte in Gefängnisse des Köln-Bonner Raums brachte. Am Ende des Krieges trieben mehrere Gestapokommissare aus Köln viele hundert (vielleicht sogar eintausend) Gefangene über Lindlar-Kaiserau-Berghausen und über Wipperfürth zur Hinrichtung nach Hunswinkel und Hühnersiepen. Dazu gibt es Belege aus Brauweiler, dem Gefängnis Klingelpütz, dem rheinischen Judenlager Müngersdorf (vgl. Dokument R.K. aus Kleve) und dem Gefängnis Siegburg.

Vermutlich kamen aber auch aus anderen Haftanstalten wie dem AEL Müngersdorf und dem Durchgangslager Bonn-Beuel die Gefangenen hierhin. Erst im Mai 2017 konnte ich neue Dokumente dafür finden. (Besonders: Staatsarchiv NRW: Gerichte Rep. 248 Nr. 270). Es ist also sehr wahrscheinlich, dass nicht nur die zwei bekannten jüdischen Bürger aus dem Bonner Raum hier ihren Tod fanden, sondern auch noch weitere, die wir nicht kennen.

So ist Hühnersiepen auch ein Teil des Holocausts. Das berichtete die politische Gefangene Elly Bockemühl (Eitorf/Köln) am 6. September 1984: „Da waren luxemburgische und belgische Juden. Die durften immer nur um die Baracke rumgehen und auch nicht mit uns sprechen. (...) Die waren sehr gut angezogen. Eines Morgens, da hören wir es knallen. Da haben die die ganze Baracke erschossen.“ (aus: „Arbeit macht frei - Zwangsarbeit in Lüdenscheid“, S. 89).

Beim Besuch ehemaliger Zwangsarbeiter aus Taganrog 1993 in Lüdenscheid berichtete Viktor Kapljuk: „Als sich im Februar 1945 schon die Amerikaner näherten, wurden Deutsche von Soldaten und der Gestapo aus Köln nach Lüdenscheid evakuiert. Die übrig gebliebenen Baracken füllten sich wieder mit Gefangenen aus Köln. Den Berg hoch, da war der Friedhof (Hühnersiepen). Man hat uns gezwungen, dort Gräber auszuheben. Die waren für die Kölner Flüchtlinge (richtig: Gefangenen) bestimmt, die dort erschossen wurden. Ich kann mich noch an 30 Mädchen erinnern, die in Handschellen zum Erschießen geführt worden sind. 350 Menschen sind dort ums Leben gekommen.“ (s.o. S. 89f.). Hühnersiepen ist also der Ort der größten NS-Kriegsendverbrechen in NRW, an dem zum Kriegsende mehr als 300 Menschen zum Teil von Mitgefangenen, zum Teil von der Gestapo hingerichtet wurden.

Jedes Jahr findet im Rombergpark eine große Feier mit Besuchen vieler Vertreter der Landesregierung und der Stadt Dortmund am Karfreitag statt. Die Zahl der in Hühnersiepen Ermordeten ist vermutlich höher als die der Opfer im Rombergpark, ohne dass hier von offizieller Seite daran jährlich besonders erinnert wird. Da das Versetal im Winter und Frühjahr 1945 weitgehend menschenleer war und die Täter von auswärts kamen, wurde das große Kriegsendverbrechen kaum wahrgenommen und weitgehend verdrängt. Zum Glück erinnern das alte und neue Mahnmal Hunswinkel etwas an den tödlichen politischen Irrweg damals in unserer Stadt.

Die Friedensgruppe lädt alle ein, jedes Jahr zur Errichtung des Denkmals am 21. Juni (1997/2017), der circa 550 Todesopfer von Hunswinkel und Hühnersiepen hier zu gedenken. Das ist der Jahrestag vor dem mörderischen Angriff auf die Sowjetunion 1941. Damit begann auch der Holocaust, weil Deutschland gegen den sogenannten „ jüdischen Bolschewismus“ Krieg führen wollte. Zweitens sind alle jedes Jahr am ersten Sonntag im September auf den Friedhof Hühnersiepen eingeladen, um dort der anonymen Toten zu gedenken und über die Friedensfrage heute nachzudenken.

Wer hat noch ein Foto des Lagers Hunswinkel?

Zwei Dinge sind noch für die Erforschung und Erinnerung wichtig:

1. Das Lagerfoto, das nach Angaben des verstorbenen Stadtfotografen Heinrich Thoma das Lager Hunswinkel zeigt, wurde 1993 von zwei ehemaligen russischen Zwangsarbeitern aus der Lüdenscheider Partnerstadt Taganrog bestätigt. Die Zweifler meinen, dass es das Reichsarbeitsdienstlager Bierbaum zeigt. Wer hätte dann noch ein Foto des Lagers Hunswinkel? Bisher ist kein anderes bekannt.

2. Zusammen mit russischen und anderen Freunden und dem EL-DE Haus in Köln (von 1935 bis 1945 Sitz der Kölner Gestapo, heute Museum/NS-Dokumentationszentrum) suchen wir - auch im Internet - nach den Namen von mehr als 400 Opfern, die noch unbekannt sind. Wer dabei mithelfen möchte, ist herzlich willkommen.

Der Forschergeist: Matthias Wagner

Er beackert ein Feld, das wie in vielen Städten auch in Lüdenscheid lange brach lag: Seit fast 40 Jahren ist Matthias Wagner mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der Bergstadt beschäftigt. Unentgeltlich und ehrenamtlich. 1978 kam der gebürtige Kölner nach Lüdenscheid. Bis zu seiner Pensionierung 2009 war er als Lehrer für Geschichte und Deutsch am Bergstadt-Gymnasium tätig. Schon kurz nach seiner Ankunft in Lüdenscheid begann Wagner mit der Erforschung der örtlichen Nazi-Historie. Unterstützt von einigen Mitstreitern und häufig mit Widerständen konfrontiert, klärt er bis heute über die Verfolgung von Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftern, Behinderten, Christen und anderen Bevölkerungsgruppen durch die Nazis auf - ebenso wie über die Verstrickung heimischer Funktionsträger in die NS-Verbrechen. Diverse Publikationen und die Etablierung der Gedenkzellen sind etwa Ausdruck dieser Arbeit, bei der Wagner oft Brücken in die Gegenwart schlägt. So zur Flüchtlingsthematik. • dt

39 Jahre Forschung zum AEL Hunswinkel