28.09.2016
Die schwere Last der NS-Zwangsarbeit
Opfer der Rüstungsproduktion wurden mit einer Tafel geehrt
Die 4000-Einwohner-Ortschaft Lehre liegt
verkehrsgünstig zwischen Braunschweig und Wolfsburg. In
Braunschweig wurde Adolf Hitler knapp drei Wochen vor der Wahl 1932
Regierungsrat und damit deutscher Staatsbürger.
Wolfsburg wurde 1937 von den Nationalsozialisten als
»Stadt des KdF-Wagens« gegründet. Das Volkswagenwerk
produzierte Waffen und Fahrzeuge für den Krieg.
»Wehrwirtschaftsführer« Ferdinand Porsche forderte als
Arbeitskräfte Kriegsgefangene an, damit die Produktion nicht ins
Stocken geriet. Das Braunschweiger Land wurde zur Rüstungsschmiede
mit hoher Lagerdichte, zumal die
»Hermann-Göring-Werke« in Salzgitter als industrielle
Neugründung hinzukamen.
In der Gemeinde Lehre befand sich eine der 180
Heeresmunitionsanstalten, die es im »Reich« gab, zur
Produktion wurden auch Kriegsgefangene eingesetzt. Bis heute versuchen
Kommunalpolitiker hartnäckig, Leiden und Tod sowjetischer
Kriegsgefangener aus der Ortsgeschichte auszublenden. So scheiterte in
Lehre jahrzehntelang der Versuch, am Eingang der ehemaligen
Heeresmunitionsanstalt einen Gedenkstein oder eine Erinnerungstafel
für die Opfer der Zwangsarbeit und Rüstungsproduktion
aufzustellen. Erst am 22.
August 2016 war es so weit: Eine 1,60 mal 0,90 Meter große Informationstafel konnte enthüllt werden.
Ein politischer Schachzug angesichts der Tatsache, dass
der erstmalige Antrag für eine solche Gedenktafel im Dezember 1983
eingebracht worden war.
Uwe Otte, ein in Lehre lebender Berufsschullehrer
für das Fach Politik, hatte den Antrag damals als Ratsherr
gestellt. 30 Jahre später – jetzt ohne Mandat –
schickte er den Antrag erneut ins Rathaus. Der politisch farb- und
parteilose Gemeindebürgermeister Klaus Westphal setzte den Antrag
auf die Tagesordnung des nahezu bedeutungslosen Ortsrates, der
höchstens dreimal im Jahr tagt.
Damit begann – fast erwartungsgemäß
– eine neue Serie politischer Peinlichkeiten. Die Politiker
fühlten sich unter Druck gesetzt und nörgelten. Otte habe
überhaupt kein Antragsrecht, meinte ein FDP-Mann (Otte hatte das
nie behauptet). Ein SPD-Politiker bezweifelte, dass es den Antrag von
1983 je gegeben habe. Bei den Nachforschungen im Rathaus stellte sich
heraus, dass Ratsprotokolle aus den 1980er und 1990er Jahren nicht mehr
vorhanden sind. Sie wurden offenbar ungeachtet des
Niedersächsischen Archivgesetzes aus Platzgründen vernichtet.
Der Ortsrat vertagte die Angelegenheit mehrfach. Erst im
Juni 2015 stimmte das Gremium mit fünf Ja-Stimmen und einer
Nein-Stimme der Tafel grundsätzlich zu, allerdings ohne die
Finanzierung zu klären. Vier Mitglieder des Ortsrates fehlten an
diesem Tag. Finanziert aus den Ortsratsmitteln wurden wie üblich
die Feste des Schützen- und des Karnevalsvereins. Der bisherige
Ortsbürgermeister Bernd Krüger (SPD) ist Vorsitzender der
Schützengesellschaft und im Karneval »Büttenredner
Bernd«.
Ex-Ratsherr Otte und seine Mitstreiter hatten inzwischen
einen Weg gefunden, der den unwilligen und schwerfälligen Ortsrat
entlasten sollte.
Sie suchten und fanden einen anderen Geldgeber: den Verein Braunschweigische Landschaft.
Zur Enthüllung der Tafel hatte sich der amtierende
Landrat aus Helmstedt, Hans Werner Schlichting (SPD), angesagt. Der
ehemalige Kämmerer der Gemeinde Lehre hatte jedoch den
Verkehrsstau nicht einkalkuliert und sagte unterwegs wieder ab. Orts-
und Gemeindebürgermeister drängten sich nun nach vorn.
Klaus Westphal verhaspelte sich und sprach bei der
Enthüllung von einer »Tafel des Vergessens«, merkte
aber sofort den Fehler und korrigierte:
»Tafel wider das Vergessen«.
Studienrat Otte behält seine grundsätzlichen
Zweifel an der Lernfähigkeit der Kommunalpolitiker. Es fehle
Erinnerungskultur, meint er. Als nächstes werde er sich dafür
einsetzen, dass im Nachbarort Wendhausen an den ersten frei
gewählten Landrat des Landkreises Braunschweig, Friedrich Brandes,
erinnert wird. Der Sozialdemokrat stammt aus Wendhausen. Er wurde von
den Nationalsozialisten verfolgt und verhaftet.
Der Ortsrat Wendhausen und der Gemeinderat Lehre zogen
es laut Otte jedoch vor, eine neue Straße nach Konrad Detlev von
Dehn (1688–1753) zu benennen.
Dieser wurde dank eines offenbar cleveren Ehevertrages
Alleinerbe des Schlosses und Gutes in Wendhausen. Er wird in Wikipedia
mit Günstlings- und Misswirtschaft und Unterschlagung in
Verbindung gebracht. Über deren Ausmaß kursierten zu Dehns
Lebzeiten Spottverse. Der verschriene Graf wurde 1730 aus dem
Staatsdienst entlassen. Schließlich musste er sogar das Land
verlassen. Seine Geliebte ließ Dehn in den Kerker sperren,
nachdem sie ihm zu unbequem geworden war.
Von Manfred Laube (Artikel aus Ossietzky 19/16; 24. September 2016)
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