22.07.2016
Ein enthüllendes
Arbeitsjournal
Manfred
Weißbeckers Besprechung von „Der Iwan kam bis
Lüdenscheid“
Ein Buch von höchster Aktualität
und zugleich besonderer Art nennt der marxistische Historiker Prof.
Manfred Weißbecker (Jena) das Buch von Ulrich Sander
„Der Iwan kam bis Lüdenscheid“. Der Autor
verstehe seine Recherchen zur NS-Zwangsarbeit als „kleinen
Ausschnitt aus einer leider noch nicht geschriebenen Anklageschrift
gegen die Täter“, die Sklavenhalter aus der
deutschen Wirtschaft. Die Buchrezension Weißbeckers erscheint
in den Marxistischen Blättern und in der UZ (Unsere Zeit) vom
3. Juli 2015. Hier der Wortlaut:
Unsere Zeit 3. Juli 2015
Ein
enthüllendes Arbeitsjournal
„Der
Iwan kam bis Lüdenscheid“ • Buchbesprechung
von Manfred Weißbecker
IwanDie Lektüre lohnt, dies sei der
Besprechung ausdrücklich vorangestellt, handelt es sich doch
um ein Buch von höchster Aktualität und zugleich von
besonderer Art, das Ulrich Sander den bisher von ihm verfassten oder
herausgegebenen Publikationen folgen ließ.1 Wer des
Verfassers unermüdliche und konsequente antifaschistische
Tätigkeit kennt, wird weder vom Thema noch von den eindeutigen
Fragestellungen und Aussagen überrascht sein. Diese gelten
jener unrühmlichen Wiedergut- machungs- und
Erinnerungspolitik, die in Bundesdeutschland regierungsoffiziell
betrieben worden ist und betrieben wird. 55 Jahre mussten vergehen,
bevor die Zwangsarbeit - nach Schätzungen geleistet von etwa
20 Millionen Menschen - als nationalsozialistisches Unrecht offiziell
in einem Gesetz anerkannt wurde.
Soeben, im Jahr 2015, war zu erleben, wie
mühselig gekämpft werden musste, um die juristische
Klausel „Kriegsgefangenschaft begründet keine
Leistungsberechtigung“ unwirksam werden zu lassen und die
wenigen noch lebenden sowjetischen Kriegsgefangenen
entschädigen zu können. Ebenso mühselig war
es auch am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts gewesen,
eine Entschädigung für die ausländischen
Zwangsarbeiter zu erreichen. Bei deren Versklavung und
menschenunwürdiger Ausbeutung hatte es sich um eines der
schwersten Verbrechen deutscher Faschisten gegen die Menschheit
gehandelt, doch Politik und Wirtschaft wollten sich ihrer Verantwortung
entziehen. Erst erheblicher Druck schuf rund 50 Jahre nach dem Zweiten
Weltkrieg Veränderungswillen. Der ungewisse Ausgang
zahlreicher Sammelklagen auf Entschädigung, die von ehemaligen
Zwangsarbeitern in den USA eingereicht worden waren, sowie die in
Deutschland aufflammende politische Diskussion führten im
Jahre 2000 zur Gründung der „Stiftung Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft“. Für diese sollten
mehrere Milliarden DM aufgebracht werden, zu gleichen Teilen von
Industrie und Bund; allerdings wären die Unternehmer - wie
Thomas Kuczynski berechnete - zum Zahlen des Achtzehnfachen
verpflichtet gewesen. Unter der Voraussetzung, dass alle Klagen
vollständig zurückgenommen werden, durften
schließlich ehemalige Zwangsarbeiter in fünf
osteuropäischen Staaten sowie in Israel und in den USA
Anträge auf Entschädigung stellen. Nicht nur die den
Deutschen zugesprochene besondere Gründlichkeit verlangte
dafür erheblichen bürokratischen Aufwand und
vielerlei Recherchen: Antragsteller hatten Nachweise vorzulegen, die zu
beschaffen unheimlich viel Aufwand erforderte, Listen mussten
erarbeitet und Betriebe ausfindig gemacht werden, die Zwangsarbeiter
beschäftigt hatten, usw. usf.
Das alles bietet den geschichtlichen Hintergrund
des hier vorzustellenden Buches. Sein Verfasser wirkte, beginnend am 2.
Mai 2000 und endend im November 2001, als Nutzer einer
Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur Erforschung der Zwangsarbeit
in der südwestfälischen Stadt Lüdenscheid -
dies trotz mancher Widerstände2 erfolgreich. In Form eines
Tagebuches beschreibt er die eigene Tätigkeit, seinen Einzug
ins Rathaus, seine Ansprech- und Verhandlungspartner, seine Schritt
für Schritt vorgelegten Ergebnisse. Am Ende lagen 7 462
Kurzbiografien von Zwangsarbeitern in Lüdenscheid und Umgebung
vor, die in Datenbanken zusammengefasst zudem diverse statistische
Analysen erlauben. Nicht ohne berechtigten Stolz darf Sander am Ende
schreiben, dass nur wenige deutsche Städte über eine
aus den vorhandenen Quellen erarbeitete Materialsammlung
verfügen (S. 210)3 Vermutlich konnten auf der Grundlage der
Lüdenscheider Recherchen etwa 1500 Überlebende eine
Entschädigung erhalten.
Mehrere Darstellungsstränge des Bandes
sind ineinander verwoben, ebenso aufschlussreich wie kunstvoll. Pars
pro toto - ein Teil anstelle einer Gesamtheit von Vorgängen:
Diesem Motto folgt Sander geradlinig und konsequent. Eine der roten
Linien seiner Darstellung gilt den Eintragungen in ein Tagebuch. Hier
wird akribisch erfasst, was wann und wie zu tun erforderlich gewesen
und was jeweils erreicht worden ist. Da erscheinen mitunter Details,
die sonst kaum Eingang in historische Darstellungen finden, die jedoch
alltägliche Mühen und kleingeistige Querelen
drastisch erhellen. Eingebettet in die Tagesberichte tauchen Briefe,
Ausschnitte aus Zeitungsartikeln und anderen Dokumenten auf. Das
verleiht der Darstellung über weite Strecken dokumentarischen
Charakter. Beschrieben werden ebenso Zustände und Verbrechen
in einigen Arbeits- und anderen Lagern, gestützt vor allem auf
die Publikationen von Gabriele Lotfi und anderer Autoren.4 Eingestreut
sind auch bemerkenswerte Ausführungen zu den Schicksalswegen
einzelner Zwangsarbeiter, zu denen jedoch der titelgebende, aber eher
symbolisch angeführte „Iwan“ nicht
gehört.5 Längere Untersuchungen sehen sich dem
spurlosen Verschwinden von 118 montenegrinischen Zwangsarbeitern
gewidmet, das offensichtlich zu jenen mörderischen, von
NSDAP-Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Albert Hoffmann in den
letzten Kriegswochen angeordneten Verbrechen gehört. Die
Agonie der Naziherrschaft sah sich drakonisch ergänzt durch
einen opferreichen Durch- halte-Terrorismus. Mit diesem sollte weniger
der propagierte „Endsieg“ gewährleistet
werden, eher ging es um das Verwischen von Spuren sowie um Versuche,
das Überleben von ausbeutungsgierigen
Großindustriellen und führenden Nazis in den
erwarteten Kämpfen befreiter Zwangsarbeiter zu sichern. Immer
wieder finden sich in die Tagebuchnotizen eingestreute allgemeine
Betrachtungen. Sie entstammen zumeist den in jener Zeit gehaltenen
Vorträgen oder publizierten Artikeln des Verfassers. Darin
setzt sich Sander ständig mit den unterschiedlichsten, zum
Teil auch unsinnigen „Argumenten“ auseinander,
denen zufolge es überflüssig oder gar falsch
wäre, Entschädigungen zu zahlen. Erhellt wird vor
allem Inhalt und Charakter der Forderung, dass endlich ein
„Schlussstrich“ gezogen werden müsse.
In seinem Nachwort mit dem Titel „Zehn
Jahre danach: Keine Anklage gegen die Quandts und Co.“
berichtet der Verfasser von den leider erfolglosen Bemühungen,
eine Mahntafel an einem Gebäude anzubringen, das
früher der Familie Quandt gehörte. Damit sollte auf
die verhängnisvolle Rolle von Wirtschaftskreisen im Dritten
Reich bzw. im Zweiten Weltkrieg hingewiesen werden. Ferner wird
ausführlich ein Vortrag referiert, den Thomas Kuczynski am 8.
Mai 2011 im Rückblick auf die Entschädigungsdebatte
gehalten hat. Das Resümee: „Ablass zu
Ausverkaufspreisen“ ...
Ulrich Sander, Journalist und Bundessprecher der
VVN-BdA, versteht seine Recherchen als „kleinen Ausschnitt
aus einer leider noch nicht geschriebenen großen
Anklageschrift gegen die Täter“ und fühlt
sich dem bekannten Schwur der befreiten KZ-Häftlinge von
Buchenwald verpflichtet, die den Kampf erst entstellen wollten,
„wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der
Völker steht“ (S. 17). Folgerichtig lautet der
letzte Satz des lesenswerten Buches: „Das Ringen um
Gerechtigkeit geht weiter.“ (S. 237) Die Schlussfolgerung,
die er aus dem beschämenden Verhalten deutscher
Großunternehmer in den Auseinandersetzungen um die
Entschädigung der Zwangsarbeiter zieht und seiner Publikation
gleichsam voranstellt, lautet: Ohne Wirtschaftsdemokratie wird es auf
die Dauer keine Demokratie mehr geben, wie es auch „ohne die
Einschränkung von Rüstungskonzernen und
Rüstungsexporten“ keinen Frieden geben
könne (S. 13).
Vorabdruck aus Marxistische Blätter
5_2015 (erscheint im September) Ulrich Sander: Der Iwan kam bis
Lüdenscheid. Protokoll einer Recherche zur Zwangsarbeit.
PapyRossa Verlag Köln 2015, 237 S. ISBN 978-3-89438582-8
1 Die Macht im Hintergrund. Militär und
Politik in Deutschland von Seeckt bis Struck, (Köln 2004);
Mörderisches Finale. NS-Verbrechen bei Kriegsende (2008); Von
Arisierung bis Zwangsarbeit. Verbrechen der Wirtschaft an Rhein und
Ruhr 1933 bis 1945 (2012).
2 Um den Auftrag an Sander rankte sich ein
Verfassungsschutzskandal, dem der Leiter des Lüdenscheider
Stadtarchivs, Dieter Saal, Beeinträchtigungen in seiner
Berufsbiografie zu verdanken hatte.
3 Im Zusammenhang mit dem 70. Jahrestag der
Befreiung entstanden in anderen Städten und Regionen mehrere
Arbeiten, die in unterschiedlichster Weise auch das Thema Zwangsarbeit
berühren. Zu verweisen wäre u.a. auf Marc Bartuschka
(Hg.): Nationalsozialistische Lager und ihre Nachgeschichte in der
Stadtregion Jena. Antisemitische Kommunalpolitik -
Zwangsarbeit-Todesmärsche, Jena 2015; Dieter Rosowski (Hrsg.):
Lausitzer Almanach. Sonderausgabe II zum 70. Jahrestag der Befreiung
vom Hitler-Faschismus: Das Kriegsende in Ostsachsen (Berichte,
Erinnerungen, Gedanken), Kamenz 2015.
4 Gabriele Lotfi: KZ der Gestapo.
Arbeitserziehungslager im Dritten Reich, München 2000; Ulrich
Herbert: Fremdarbeiter - Politik und Praxis des
„Ausländereinsatzes in der Kriegswirtschaft des
Dritten Reiches, Bonn 1999; Winkler, Ulrike (Hrsg.): Stiften gehen.
NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte. Köln 2000;
Thomas Kuczynski: Brosamen vom Herrentisch, Berlin 2004.
5 In Anlehnung an (Jas Buch von Richard David
Precht „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“
verzichtet der Vf. auf das Wörtchen „nur“
und erklärt: „Die Iwans aus dem Lande Lenins kamen
nicht nur bis Lüdenscheid, sie kamen bis in jedes deutsche
Dorf [...] Keiner kam je als Eroberer - so wie die Fritzen als Eroberer
und Unterdrücker und als Mörder in ihr Land
kamen.“ (S. 233)
Das Buch kann hier bestellt werden: http://www.nrw.vvn-bda.de/texte/1424_iwan.htm
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