17.01.2016
Eine Stadtführung
zur Warnung vor neuem Unheil
Gedenkstätte
in Lüdenscheid als Ausgangspunkt
Matthias Wagner zeigt und erläutert die
Stadtführung auf den lokalen Spuren der NS-Zeit als
Ergänzung zur Ausstellung in den Zellen der Gestapo. Es werden
auch die Orte der Verbrechen der Wirtschaft und ihrer Opfer angesteuert.
Aus „Gedenken und
Weiterdenken“, Begleitbuch zur Ausstellung
„Ge-Denk-Zellen“, Altes Rathaus Lüdenscheid
Vorbemerkung: Die nationalsozialistische Politik
fand nicht nur im Rathaus und Polizeigefängnis statt, sondern
in der ganzen Stadt. Ein Stadtrundgang soll das zeigen. Es ist
sinnvoll, ihn in zwei Abschnitte zu teilen: vom Bräuckenkreuz
zum Rathausplatz und dann von dort zum Eingangstor/Knast der
früheren Kaserne Buckesfeld. Beide Abschnitte sind je 3-4 km
lang.
A.
Bräucken/Schlachthausstr. 4: Hermann Massalsky
(1879 in Insterburg geboren) wurde Frisörmeister. In
Lüdenscheid gehörte er zur Partei der Kommunisten.
Sie erhielt hier in der Zeit der Weimarer Republik zwischen 10 und 20 %
aller Wählerstimmen und stand in radikaler Opposition zur
NSDAP. Nach der Russischen Revolution und dem 1. Weltkrieg spaltete
sich Europa vielfältig auf. Der wichtigste Gegensatz war der
zwischen dem kommunistischen Russland – also der Sowjetunion
als Ideal einer sozialistischen Gesellschaft
– und den kapitalistischen Ländern. Dieser
gesellschaftliche Konflikt prägte auch das politische Leben in
Deutschland und in Lüdenscheid. Deshalb wurden Kommunisten
schon im Februar 1933 von Nationalsozialisten verhaftet und im
März in das Konzentrationslager Lippstadt-Benninghausen
eingewiesen. Hermann Massalsky war im 1. Weltkrieg Soldat gewesen. Er
kandidierte 1929 für den Stadtrat. 1934 und 1935 wurde er
verhaftet und 1937 entlassen. Am Tag der Befreiung
Lüdenscheids – also am 13.4.1945 – wurde
er von einem Zahlmeister der Wehrmacht verhaftet, zum Wäldchen
am Wefelshohl gebracht und dort erschossen, weil er negativ
über die militärischen Leistungen Hitlers gesprochen
hatte. Zehn kommunistische Lüdenscheider kamen durch die
Verfolgung der Nationalsozialisten ums Leben. Mehr als 50
saßen in Gefängnissen.
B.
Schützenstr. 2: Als Wilhelm Woeste als
Tiefbauunternehmer und aktives Mitglied der SPD 1933 keine
Aufträge mehr erhielt, unterstützte er seine Frau bei
der Übernahme des Lebensmittelgeschäftes
Schützenstr. 2. Hier tauschten SPD-Mitglieder oft
Informationen und Schriften aus, die über Lieferanten aus dem
Ausland kamen. Deshalb wurden Herr und Frau Woeste 1935 verhaftet.
C.
Schützenstr. 2 b: Karl Klauke, 1870 in
Lüdenscheid geboren, 1941-1943 in Haft wegen
„Feindsender hören und Judenfreund“. Er
weigerte sich, seinem achtzigjährigen Mieter Stern zu
kündigen und wurde deshalb fast 2 Jahre lang inhaftiert (vgl.
Tafel in der Gedenkstätte und das Stichwort
„Helfer“ in „Fragen und Antworten zu den
Ge-Denk-Zellen“). Schlittenbacher
Str. 11: 7000-8.000 FremdarbeiterInnen waren im 2.
Weltkrieg in Lüdenscheid tätig, in
Deutschland ca. 10 Mio. und in den besetzten Nachbarstaaten mehrere
Millionen zusätzlich. Trotz des internationalen Verbots,
Kriegsgefangene und Deportierte in der Rüstungsproduktion
einzusetzen, mussten sie Munition und kriegswichtige Produkte
herstellen. Wenn sie Kritik übten, kamen sie in das Arbeits-
und Erziehungslager Hunswinkel, das im Versetal, auf dem Grund der
heutigen Verstalsperre, stand. Dort starben an Hunger,
Schlägen und Misshandlungen 514 der ca. 5.000
Häftlinge. Aber auch in der Stadt wurden die
ZwangsarbeiterInnen aus Osteuropa sehr schlecht behandelt.
Unter der Anschrift Schlittenbacher Str. 11 lebten
mehr als 100 ZwangsarbeiterInnen. Mindestens 34 starben an den
tödlichen Lebensbedingungen. Ähnlich viele starben an
der Altenaer Str. 38 d (24 Tote, WKM) und in der Gartenstr. 29 (31
Tote, Busch Jäger Elektro). Auch an vielen anderen Stellen
kamen die meistens jungen ZwangsarbeiterInnen ums Leben, insgesamt
über 700, also ca. 10 % der Fremdarbeiter.
Die aus Westeuropa stammenden FremdarbeiterInnen
wurden ähnlich wie die deutschen Arbeiter behandelt, aber die
OsteuropäerInnen aus rassistischen Gründen nicht. Als
„Untermenschen“ lebten sie in Kellern,
Barackenlagern oder Hallen hinter Stacheldraht, sie erhielten laut
Erlass weniger und minderwertiges Essen, erhielten oft keinen Lohn
ausgezahlt und hatten fast keine Kleidung. Im Winter mussten sie in
Holzschuhen gehen, was wegen der Kälte und der Glätte
sehr schwer war. Viele wurden misshandelt. Oft musste ein
Teil des Lohns auf ein Sparbuch (z.B. bei der Sparkasse) eingezahlt
werden. Es gab Lüdenscheider Unternehmen (z.B. ERCO,
Paulmann), in denen die Arbeitsbedingungen menschenfreundlicher
gestaltet wurden.
E.
Neubau der Stadtbücherei (Rückseite, Corneliusstr. /
früher: Gaststätte Jägerhof, mit
Gedenktafel für die jüdische Gemeinde
Lüdenscheid):
1933 lebten in Lüdenscheid 114 Juden. Sie
kamen hier zum Gebet zusammen. Viele von Ihnen waren im
Einzelhandel tätig. Wegen Boykottaufrufen (SA-Wachen vor den
Geschäften u.a.) gingen die Umsätze zurück
und versuchten viele auszuwandern. Ungefähr der
Hälfte gelang das: nach China, Belgien,
Großbritannien, Kuba, Palästina, in die Niederlande
und in die USA. 46 wurden – die meisten in Auschwitz
– ermordet. Einige – deren Lebenspartner Christen
waren - konnten in Konzentrationslagern überleben,
wenn sich der Ehepartner nicht unter dem Druck der
Gestapo-Verhöre scheiden ließ. Der christliche
Ehepartner wurde immer mehr unter Druck gesetzt. Man nahm ihm
das Radio, das Fahrrad, die Kleidung, die Zeitung, die Bücher
und die Wohnung und wies ihn in einen Raum der Finkbeiner-Siedlung auf
dem Gelände des späteren
Bergstadt-Gymnasiums an der Saarlandstr. 5 ein (vgl. unten Gestapo,
Friedrichstr. 3 und die Tafel „Jüdische
Nachbarn“ in den Zellen).
F.
Einfahrt zum Parkdeck, damals Haus der Feuerwehr, und auf der 1. Etage
der Bücherei: Dem Zeitgeist der
Nationalsozialisten entsprechend wurde auch die Stadtbücherei
gestaltet. Von ca. 14.000 Büchern wurden ca. 4.000 entfernt
und zum großen Teil von der Feuerwehr am 24.1.1934 verbrannt.
Das Gebäude der Feuerwehr stand rechts neben dem heutigen
Studienseminar und damaligen Arbeitsamt.
G.
Das Arbeitsamt in der NS-Zeit, Corneliusstr. 39: Es war
die wichtige Behörde, die Arbeitszwang und
–disziplin in Zusammenarbeit mit anderen Ämtern und
der Polizei durchsetzte. Menschen mussten immer mehr arbeiten. Ab 1936
wurde die Möglichkeit der Wahl des Arbeitsplatzes immer mehr
eingeschränkt und mehr Zusatzarbeit verlangt. Angefangen mit
der Hitlerjugend, dem Arbeitsdienst, über den
Militärdienst bis hin zur Lohnarbeit stellten die
führenden Partei- und Regierungsmitglieder die Menschen immer
stärker in den Dienst des Nationalsozialismus. Adolf Hitler
formulierte das so: „Der Arier faßt Arbeit auf als
Grundlage zur Erhaltung der Volksgemeinschaft unter sich, der Jude als
Mittel zur Ausbeutung anderer Völker“ (Rede vom
12.8.1922). „Der Arier ist nicht in seinen geistigen
Eigenschaften an sich am größten, sondern im
Ausmaße der Bereitwilligkeit, alle Fähigkeiten in
den Dienst der Gemeinschaft zu stellen“ (Mein Kampf, S. 326).
Dafür wurde immer mehr Zwang ausgeübt. Die Anwerbung
der Fremdarbeiter, die Zwangsmaßnahmen zum Einsatz der
Zwangsarbeiter und die Einweisung in die Arbeitserziehungslager, wo
5-10% ums Leben gebracht wurden, zählten zu den vielen
Aufgaben des Arbeitsamtes im Dienst des Nationalsozialismus, der
Aufrüstung und der Kriegsproduktion.
H.
Das Alte Rathaus: (Foto1: heute) Neben dem Dienstsitz des
Kreisleiters war das Rathaus die Zentrale der nationalsozialistischen
Diktatur. Hier befanden sich die Polizeistation und das
Polizeigefängnis (vgl. das Stichwort
„Polizei/Hilfspolizei“ in „Fragen und
Antworten zu den Ge-Denk-Zellen“).
I.
Kreisleiterbüro: Dienstsitz des
mächtigsten Mannes im Kreis Altena-Lüdenscheid
(1933-1944: Walter Borlinghaus) war die Anschrift Jockuschstr. 2-4,
damals Horst-Wessel-Straße.
K.
Altes Gesundheitsamt, Altenaer Str. 5: Es war an mehr als
200 Zwangssterilisationen vor dem 2. Weltkrieg beteiligt und an vielen
der 55 Euthanasiemorde. Es arbeitete zusammen mit 26
Lüdenscheider Ärzten, mit Richtern, Schulen, Polizei,
Krankenhaus, Sozialamt und Landeskliniken.
L.
Rathausplatz: Geschichte der Namengebung: Bis 1933
Karlsplatz, seit 1933 Adolf-Hitler-Platz, seit 1945 Karl-Marx-Platz,
seit 1953 Marktplatz, seit 1965 Rathausplatz (vgl. Die
Lüdenscheider Straßennamen von G. Geisel/D.
Leutloff, 2013, S.176).
M.
Reichspogromnacht: Am Morgen des 10. 11.1938 kamen
SA-Mitglieder und zerstörten die letzten beiden
jüdischen Geschäfte: Lebenberg (Knapperstr. 7;
Geschäftsführer: Cahn) und Ripp (bis 1937:
Knapperstr: 17, danach: Knapperstr. 8 bis 9.11.1938). Die
Geschäfte wurden zerstört und geplündert,
die Ladenbesitzer verhaftet und in die Polizeihaftzellen des Alten
Rathauses gebracht. Von dort kamen sie in das KZ Sachsenhausen.
N.
Gestapo, Friedrichstr. 3: Hier befand sich die Gestapo,
die für die rassische und politische Verfolgung in
Zusammenarbeit mit SA und Polizei zuständig war.
O.
Knapperstr. 57, Georg Kolbe: Der Wächter. Die
überlebensgroße Figur wurde 1937 für die
Kaserne Buckesfeld (letzte Station) geschaffen, um den Soldaten in
Ausbildung ein Leitbild vorzugeben: den athletischen Wächter
im Dienst für sein Volk. Der funktionstüchtige,
traditionsbewusste (Bogen statt Gewehr), soldatische Mensch
ließ Nachdenklichkeit und Empfinden nicht zu.
P.
Knapperstr. 57: Hier befand sich seit dem 18. Jahrhundert
der alte
jüdische Friedhof. Er wurde ab 1933 mehrfach
geschändet. 1935 legte die Stadt nach der Entfernung der
Gräber dort einen Spielplatz an. 1954 wurden einige
zerstörte Grabsteine auf dem „neuen“
(heute: alten) Jüdischen Friedhof „Am
Ramsberg“ rekonstruiert. Er war 1888 angelegt worden, weil an
der Knapperstr. der Platz nicht mehr reichte. Ein Teil eines
jüdischen Grabsteins, der neben der früheren Deponie
am Grünewald gefunden wurde, ist in den Ge-Denk-Zellen zu
sehen.
Nun
geht der Weg rechts durch die Herderstr. bis zur Friedrichstr., dann
wenige Schritte nach rechts und links in die Körnerstr. Am
Ende überquert man die Bahnhofstr. und geht durch die
Lutherstr. zur Mathildenstr. nach rechts in den Haupteingang des alten
Evangelischen Friedhofs.
Q.
Ev. Friedhof, Mathildenstr.: Ihn durchquert man in
gerader Richtung und geht dann links in das Eckfeld, genannt
Russenfeld. Hier findet man mehr als 120 Gräber von ehemaligen
Zwangsarbeitern. Außerdem gibt es – ohne
Kennzeichen – ein Massengrab mit ca. 80 russischen
Kriegsgefangenen, die 1945 im Lazarett Baukloh starben und hier
namenlos beigesetzt wurden.
R.
Neuer Ev. Friedhof: Wer die Zeit hat, kann sich den
großen Soldatenfriedhof ansehen, um die unfassbare
Zerstörungsmacht der Menschen im 2. Weltkrieg zu sehen.
Am
Ende des alten Ev. Friedhofs befindet sich ein einfacher Durchgang zur
Straße „Am Grünewald“. Durch sie
geht man nach links bis zur Wehberger Str. und dann nach rechts bis zum
Wermecker Weg. In den biegt man links ein und geht bis zur Ludwigstr.
Hier wohnten in der NS-Zeit viele Gewerkschafter und Kommunisten. Am
Ende der Ludwigstr. biegt man rechts in die Heedfelder Str.
S.
Vor der Lösenbacher Landstr. und dem Kreishaus
überquert man unbemerkt die Eisenbahnlinie. Der Tunnel diente
den Kommunisten oft als Versteck vor den Angriffen der
Nationalsozialisten und vor der Inhaftierung.
Wenn man durch
die Heedfelderstr. bis zur Buckesfelder Str. geht, biegt man in sie ein
und kommt entlang der Berufsschule und der gegenüberliegenden
Realschule zum Eingangstor der Buckesfelder Kaserne.p
T.
Eingangstor der Buckesfelder Kaserne: Trotz der Bedenken
des Militärs wegen der schwierigen Topographie gelang es dem
Lüdenscheider Oberbürgermeister Dr. Schneider, den
Bau von drei Kasernen in der Stadt 1935 zu erreichen. Das entsprach der
nationalsozialistischen Politik der Aufrüstung. In den
Kasernen Buckesfeld, Baukloh und Hellersen waren gleichzeitig
ca. 2000 – 3000 Soldaten, die
für den 2. Weltkrieg ausgebildet wurden. Mehr als
8.000 Lüdenscheider leisteten ihren Dienst als Soldaten, mehr
als 2.700 starben. Wie viele Gegner von ihnen erschossen wurden, ist
nicht bekannt. Am 9. April 1945 – vier Tage vor dem
Kriegsende in Lüdenscheid – wurden drei
Soldaten, denen man Fahnenflucht vorwarf, hier erschossen und
anschließend auf dem Adolf-Hitler-Platz zur Schau gestellt.
Einer war Heini Wiegmann, dessen Grab auf dem Soldatenfeld des neuen
Evangelischen Friedhofs liegt und nach dem eine Straße
benannt wurde.
Hier endet der
lokalgeschichtliche Weg auf den Spuren der NS-Zeit in
Lüdenscheid.
U.
Das Arbeitserziehungslager Hunswinkel im Versetal (heute:
Versestausee) südöstlich von Lüdenscheid war
der schrecklichste Ort der NS-Zeit in Lüdenscheid und im Kreis
Altena. Es wurde im August 1940 von der Polizei (in
Düsseldorf), vom Arbeitsamt (in Essen) und von den
Arbeitgeberverbänden eingerichtet, um kritische Arbeiter zu
„erziehen“: durch Schläge, durch
Quälereien, durch Schwerstarbeit im Laufschritt, durch Hunger,
durch erniedrigende Behandlung u.a. Als ab 1942 russische
Zwangsarbeiter eingewiesen wurden, stieg die Zahl der
Todesfälle rasch an und betrug bis zum Ende des Krieges 514.
Insgesamt waren hier ca. 5.000
„Erziehungshäftlinge“ inhaftiert. Sie
schufen zum großen Teil das Versestaubecken und die Staumauer
mit wenigen Maschinen und viel schwerer Körperarbeit.
– Zwei Erinnerungstafeln auf dem Parkplatz an der Klamer
Brücke, das Russenfeld im nördlichen Teil des
Friedhofs Loh und Friedhof/Gedenkstätte Hühnersiepen
(östlich von Piepersloh) sind Hinweise auf die
tödlichen Misshandlungen in dem Lager.
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