Heartfield: "Millionen stehen hinter Hitler"

Rallye „Spurensuche Verbrechen der Wirtschaft 1933-1945“

Ein Projekt der VVN/BdA NRW

 

17.01.2016

Eine Stadtführung zur Warnung vor neuem Unheil

Gedenkstätte in Lüdenscheid als Ausgangspunkt

Matthias Wagner zeigt und erläutert die Stadtführung auf den lokalen Spuren der NS-Zeit als Ergänzung zur Ausstellung in den Zellen der Gestapo. Es werden auch die Orte der Verbrechen der Wirtschaft und ihrer Opfer angesteuert.

Aus „Gedenken und Weiterdenken“, Begleitbuch zur Ausstellung „Ge-Denk-Zellen“, Altes Rathaus Lüdenscheid

Vorbemerkung: Die nationalsozialistische Politik fand nicht nur im Rathaus und Polizeigefängnis statt, sondern in der ganzen Stadt. Ein Stadtrundgang soll das zeigen. Es ist sinnvoll, ihn in zwei Abschnitte zu teilen: vom Bräuckenkreuz zum Rathausplatz und dann von dort zum Eingangstor/Knast der früheren Kaserne Buckesfeld. Beide Abschnitte sind je 3-4 km lang.

A. Bräucken/Schlachthausstr. 4: Hermann Massalsky (1879 in Insterburg geboren) wurde Frisörmeister. In Lüdenscheid gehörte er zur Partei der Kommunisten. Sie erhielt hier in der Zeit der Weimarer Republik zwischen 10 und 20 % aller Wählerstimmen und stand in radikaler Opposition zur NSDAP. Nach der Russischen Revolution und dem 1. Weltkrieg spaltete sich Europa vielfältig auf. Der wichtigste Gegensatz war der zwischen dem kommunistischen Russland – also der Sowjetunion als Ideal einer sozialistischen  Gesellschaft  – und den  kapitalistischen Ländern. Dieser gesellschaftliche Konflikt prägte auch das politische Leben in Deutschland und in Lüdenscheid. Deshalb wurden Kommunisten schon im Februar 1933 von Nationalsozialisten verhaftet und im März in das Konzentrationslager Lippstadt-Benninghausen eingewiesen. Hermann Massalsky war im 1. Weltkrieg Soldat gewesen. Er kandidierte 1929 für den Stadtrat. 1934 und 1935 wurde er verhaftet und 1937 entlassen. Am Tag der Befreiung Lüdenscheids – also am 13.4.1945 – wurde er von einem Zahlmeister der Wehrmacht verhaftet, zum Wäldchen am Wefelshohl gebracht und dort erschossen, weil er negativ über die militärischen Leistungen Hitlers gesprochen hatte. Zehn kommunistische Lüdenscheider kamen durch die Verfolgung der Nationalsozialisten ums Leben. Mehr als 50 saßen in Gefängnissen.

B. Schützenstr. 2: Als Wilhelm Woeste als Tiefbauunternehmer und aktives Mitglied der SPD  1933 keine Aufträge mehr erhielt, unterstützte er seine Frau bei der Übernahme des Lebensmittelgeschäftes Schützenstr. 2.  Hier tauschten SPD-Mitglieder oft Informationen und Schriften aus, die über Lieferanten aus dem Ausland kamen. Deshalb wurden Herr und Frau Woeste 1935 verhaftet.  

C. Schützenstr. 2 b: Karl Klauke, 1870 in Lüdenscheid geboren, 1941-1943 in Haft wegen „Feindsender hören und Judenfreund“. Er weigerte sich, seinem achtzigjährigen Mieter Stern zu kündigen und wurde deshalb fast 2 Jahre lang inhaftiert (vgl. Tafel in der Gedenkstätte und das Stichwort „Helfer“ in „Fragen und Antworten zu den Ge-Denk-Zellen“). Schlittenbacher Str. 11: 7000-8.000 FremdarbeiterInnen waren im 2. Weltkrieg  in Lüdenscheid tätig, in Deutschland ca. 10 Mio. und in den besetzten Nachbarstaaten mehrere Millionen zusätzlich. Trotz des internationalen Verbots, Kriegsgefangene und Deportierte in der Rüstungsproduktion einzusetzen, mussten sie Munition und kriegswichtige Produkte herstellen. Wenn sie Kritik übten, kamen sie in das Arbeits- und Erziehungslager Hunswinkel, das im Versetal, auf dem Grund der heutigen Verstalsperre, stand. Dort starben an Hunger, Schlägen und Misshandlungen 514 der ca. 5.000 Häftlinge. Aber auch in der Stadt wurden die ZwangsarbeiterInnen aus Osteuropa sehr schlecht behandelt.

Unter der Anschrift Schlittenbacher Str. 11 lebten mehr als 100 ZwangsarbeiterInnen. Mindestens 34 starben an den tödlichen Lebensbedingungen. Ähnlich viele starben an der Altenaer Str. 38 d (24 Tote, WKM) und in der Gartenstr. 29 (31 Tote, Busch Jäger Elektro). Auch an vielen anderen Stellen kamen die meistens jungen ZwangsarbeiterInnen ums Leben, insgesamt über 700, also ca. 10 % der Fremdarbeiter.

Die aus Westeuropa stammenden FremdarbeiterInnen wurden ähnlich wie die deutschen Arbeiter behandelt, aber die OsteuropäerInnen aus rassistischen Gründen nicht. Als „Untermenschen“ lebten sie in Kellern, Barackenlagern oder Hallen hinter Stacheldraht, sie erhielten laut Erlass weniger und minderwertiges Essen, erhielten oft keinen Lohn ausgezahlt und hatten fast keine Kleidung. Im Winter mussten sie in Holzschuhen gehen, was wegen der Kälte und der Glätte sehr schwer war. Viele wurden  misshandelt. Oft musste ein Teil des Lohns auf ein Sparbuch (z.B. bei der Sparkasse) eingezahlt werden.  Es gab Lüdenscheider Unternehmen (z.B. ERCO, Paulmann), in denen die Arbeitsbedingungen menschenfreundlicher gestaltet wurden.

E. Neubau der Stadtbücherei (Rückseite, Corneliusstr. / früher: Gaststätte Jägerhof,  mit Gedenktafel für die jüdische Gemeinde  Lüdenscheid):

1933 lebten in Lüdenscheid 114 Juden. Sie kamen  hier zum Gebet zusammen. Viele von Ihnen waren im Einzelhandel tätig. Wegen Boykottaufrufen (SA-Wachen vor den Geschäften u.a.) gingen die Umsätze zurück und versuchten viele auszuwandern. Ungefähr der Hälfte gelang das: nach China, Belgien, Großbritannien, Kuba, Palästina, in die Niederlande und in die USA. 46 wurden – die meisten in Auschwitz – ermordet. Einige – deren Lebenspartner Christen waren -  konnten in Konzentrationslagern überleben, wenn sich der Ehepartner nicht unter dem Druck der Gestapo-Verhöre scheiden ließ. Der christliche Ehepartner  wurde immer mehr unter Druck gesetzt. Man nahm ihm das Radio, das Fahrrad, die Kleidung, die Zeitung, die Bücher und die Wohnung und wies ihn in einen Raum der Finkbeiner-Siedlung auf dem Gelände des späteren  Bergstadt-Gymnasiums an der Saarlandstr. 5 ein (vgl. unten Gestapo, Friedrichstr. 3 und die Tafel „Jüdische Nachbarn“ in den Zellen).

F. Einfahrt zum Parkdeck, damals Haus der Feuerwehr, und auf der 1. Etage der Bücherei: Dem Zeitgeist der Nationalsozialisten entsprechend wurde auch die Stadtbücherei gestaltet. Von ca. 14.000 Büchern wurden ca. 4.000 entfernt und zum großen Teil von der Feuerwehr am 24.1.1934 verbrannt. Das Gebäude der Feuerwehr stand rechts neben dem heutigen Studienseminar und damaligen Arbeitsamt.

G. Das Arbeitsamt in der NS-Zeit, Corneliusstr. 39: Es war die wichtige Behörde, die  Arbeitszwang und  –disziplin in Zusammenarbeit mit anderen Ämtern und der Polizei durchsetzte. Menschen mussten immer mehr arbeiten. Ab 1936 wurde die Möglichkeit der Wahl des Arbeitsplatzes immer mehr eingeschränkt und mehr Zusatzarbeit verlangt. Angefangen mit der Hitlerjugend, dem Arbeitsdienst, über den Militärdienst bis hin zur Lohnarbeit stellten die führenden Partei- und Regierungsmitglieder die Menschen immer stärker in den Dienst des Nationalsozialismus. Adolf Hitler formulierte das so: „Der Arier faßt Arbeit auf als Grundlage zur Erhaltung der Volksgemeinschaft unter sich, der Jude als Mittel zur Ausbeutung anderer Völker“ (Rede vom 12.8.1922). „Der Arier ist nicht in seinen geistigen Eigenschaften an sich am größten, sondern im Ausmaße der Bereitwilligkeit, alle Fähigkeiten in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen“ (Mein Kampf, S. 326). Dafür wurde immer mehr Zwang ausgeübt. Die Anwerbung der Fremdarbeiter, die Zwangsmaßnahmen zum Einsatz der Zwangsarbeiter und die Einweisung in die Arbeitserziehungslager, wo 5-10% ums Leben gebracht wurden, zählten zu den vielen Aufgaben des Arbeitsamtes im Dienst des Nationalsozialismus, der Aufrüstung und der Kriegsproduktion.

H. Das Alte Rathaus: (Foto1: heute) Neben dem Dienstsitz des Kreisleiters war das Rathaus die Zentrale der nationalsozialistischen Diktatur. Hier befanden sich die Polizeistation und das Polizeigefängnis (vgl. das Stichwort „Polizei/Hilfspolizei“ in „Fragen und Antworten zu den Ge-Denk-Zellen“).

I. Kreisleiterbüro:  Dienstsitz des mächtigsten Mannes im Kreis Altena-Lüdenscheid (1933-1944: Walter Borlinghaus) war die Anschrift Jockuschstr. 2-4, damals Horst-Wessel-Straße.

K. Altes Gesundheitsamt, Altenaer Str. 5: Es war an mehr als 200 Zwangssterilisationen vor dem 2. Weltkrieg beteiligt und an vielen der  55 Euthanasiemorde. Es arbeitete zusammen mit 26 Lüdenscheider Ärzten, mit Richtern, Schulen, Polizei, Krankenhaus, Sozialamt und Landeskliniken.

L. Rathausplatz: Geschichte der Namengebung: Bis 1933 Karlsplatz, seit 1933 Adolf-Hitler-Platz, seit 1945 Karl-Marx-Platz, seit 1953 Marktplatz, seit  1965 Rathausplatz (vgl. Die Lüdenscheider Straßennamen von G. Geisel/D. Leutloff, 2013, S.176).

M. Reichspogromnacht: Am Morgen des 10. 11.1938 kamen SA-Mitglieder und zerstörten die letzten beiden jüdischen Geschäfte: Lebenberg (Knapperstr. 7; Geschäftsführer: Cahn) und Ripp (bis 1937: Knapperstr: 17, danach: Knapperstr. 8 bis 9.11.1938). Die Geschäfte wurden zerstört und geplündert, die Ladenbesitzer verhaftet und in die Polizeihaftzellen des Alten Rathauses gebracht. Von dort kamen sie in das KZ Sachsenhausen.

N. Gestapo, Friedrichstr. 3: Hier befand sich die Gestapo, die für die rassische und politische Verfolgung in Zusammenarbeit mit SA und Polizei zuständig war.

O. Knapperstr. 57, Georg Kolbe: Der Wächter. Die überlebensgroße Figur wurde 1937 für die Kaserne Buckesfeld (letzte Station) geschaffen, um den Soldaten in Ausbildung ein Leitbild vorzugeben: den athletischen Wächter im Dienst für sein Volk. Der funktionstüchtige, traditionsbewusste (Bogen statt Gewehr), soldatische Mensch ließ Nachdenklichkeit und Empfinden nicht zu.

P. Knapperstr. 57: Hier befand sich seit dem 18. Jahrhundert der alte jüdische Friedhof. Er wurde ab 1933 mehrfach geschändet. 1935 legte die Stadt nach der Entfernung der Gräber dort einen Spielplatz an. 1954 wurden einige zerstörte Grabsteine auf dem „neuen“ (heute: alten) Jüdischen Friedhof „Am Ramsberg“ rekonstruiert. Er war 1888 angelegt worden, weil an der Knapperstr. der Platz nicht mehr reichte.  Ein Teil eines jüdischen Grabsteins, der neben der früheren Deponie am Grünewald gefunden wurde, ist in den Ge-Denk-Zellen zu sehen.

Nun geht der Weg rechts durch die Herderstr. bis zur Friedrichstr., dann wenige Schritte nach rechts und links in die Körnerstr. Am Ende überquert man die Bahnhofstr. und geht durch die Lutherstr. zur Mathildenstr. nach rechts in den Haupteingang des alten Evangelischen Friedhofs.

Q. Ev. Friedhof, Mathildenstr.: Ihn durchquert man in gerader Richtung und geht dann links in das Eckfeld, genannt Russenfeld. Hier findet man mehr als 120 Gräber von ehemaligen Zwangsarbeitern. Außerdem gibt es – ohne Kennzeichen –  ein Massengrab mit ca. 80 russischen Kriegsgefangenen, die 1945 im Lazarett Baukloh starben und hier namenlos beigesetzt wurden.

R. Neuer Ev. Friedhof: Wer die Zeit hat, kann sich den großen Soldatenfriedhof ansehen, um die unfassbare Zerstörungsmacht der Menschen im 2. Weltkrieg zu sehen.

Am Ende des alten Ev. Friedhofs befindet sich ein einfacher Durchgang zur Straße „Am Grünewald“. Durch sie geht man nach links bis zur Wehberger Str. und dann nach rechts bis zum Wermecker Weg. In den biegt man links ein und geht bis zur Ludwigstr. Hier wohnten in der NS-Zeit viele Gewerkschafter und Kommunisten. Am Ende der Ludwigstr. biegt man rechts in die Heedfelder Str.

S. Vor der Lösenbacher Landstr. und dem Kreishaus überquert man unbemerkt die Eisenbahnlinie. Der Tunnel diente den Kommunisten oft als Versteck vor den Angriffen der Nationalsozialisten und vor der Inhaftierung.

Wenn man durch die Heedfelderstr. bis zur Buckesfelder Str. geht, biegt man in sie ein und kommt entlang der Berufsschule und der gegenüberliegenden Realschule zum Eingangstor der Buckesfelder Kaserne.p

T. Eingangstor der Buckesfelder Kaserne: Trotz der Bedenken des Militärs wegen der schwierigen Topographie gelang es dem Lüdenscheider Oberbürgermeister Dr. Schneider, den Bau von drei Kasernen in der Stadt 1935 zu erreichen. Das entsprach der nationalsozialistischen Politik der Aufrüstung. In den Kasernen Buckesfeld, Baukloh und Hellersen waren gleichzeitig ca.  2000 – 3000  Soldaten, die für den 2. Weltkrieg ausgebildet wurden.  Mehr als 8.000 Lüdenscheider leisteten ihren Dienst als Soldaten, mehr als 2.700 starben. Wie viele Gegner von ihnen erschossen wurden, ist nicht bekannt. Am 9. April 1945 – vier Tage vor dem Kriegsende in Lüdenscheid  – wurden drei Soldaten, denen man Fahnenflucht vorwarf, hier erschossen und anschließend auf dem Adolf-Hitler-Platz zur Schau gestellt. Einer war Heini Wiegmann, dessen Grab auf dem Soldatenfeld des neuen Evangelischen Friedhofs liegt und nach dem eine Straße benannt wurde.

Hier endet der lokalgeschichtliche Weg auf den Spuren der NS-Zeit in Lüdenscheid.

U. Das Arbeitserziehungslager Hunswinkel im Versetal (heute: Versestausee) südöstlich von Lüdenscheid war der schrecklichste Ort der NS-Zeit in Lüdenscheid und im Kreis Altena. Es wurde im August 1940 von der Polizei (in Düsseldorf), vom Arbeitsamt (in Essen) und von den Arbeitgeberverbänden eingerichtet, um kritische Arbeiter zu „erziehen“: durch Schläge, durch Quälereien, durch Schwerstarbeit im Laufschritt, durch Hunger, durch erniedrigende Behandlung u.a. Als ab 1942 russische Zwangsarbeiter eingewiesen wurden, stieg die Zahl der Todesfälle rasch an und betrug bis zum Ende des Krieges 514. Insgesamt waren hier ca. 5.000 „Erziehungshäftlinge“ inhaftiert. Sie schufen zum großen Teil das Versestaubecken und die Staumauer mit wenigen Maschinen und viel schwerer Körperarbeit. – Zwei Erinnerungstafeln auf dem Parkplatz an der Klamer Brücke, das Russenfeld im nördlichen Teil des Friedhofs Loh und Friedhof/Gedenkstätte Hühnersiepen (östlich von Piepersloh) sind Hinweise auf die tödlichen Misshandlungen in dem Lager.