28.01.2013 November 1932: Wird Hitler gestoppt? "Warum
kam die Aktionseinheit der Arbeiterbewegung, deren Kern nur das
Zusammenwirken der beiden großen Arbeiterparteien sein konnte,
nicht zustande?" So fragt Prof. Dr.
sc. Heinz Karl in den Ausgaben November und Dezember 2012 der
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der
Partei DieLinke. Wir geben den Artikel mit freundlicher Genehmigung
hier wieder. November 1932: Wird Hitler gestoppt? (Teil 1) aus: November 2012 | Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der Partei DieLinke Prof. Dr. sc. Heinz Karl, Berlin In
gut zwei Monaten jährt sich zum achtzigsten Mal der Tag, an dem
die größte Katastrophe der deutschen Geschichte begann. Die
bürgerliche Geschichtsschreibung und Publizistik ist von jeher -
und verstärkt seit der Einverleibung des alternativen,
sozialistischen deutschen Staates in die kapitalistische,
imperialistische BRD - bemüht, den Weg in diese Katastrophe zu
vernebeln, ihn als alternativloses Verhängnis hinzustellen,
Ursachen und Triebkräfte dieser Entwicklung zu verschleiern und zu
verfälschen und damit der Frage nach der historischen
Verantwortung auszuweichen oder sie demagogisch,
geschichtsfälschend zu beantworten. Dies ist nur möglich, wenn grundlegende geschichtliche Tatsachen ausgeblendet werden: - dass
der größte Teil des Großkapitals, des
Großgrundbesitzes, des Militärs, der Staatsbürokratie
die ihnen durch die Novemberrevolution 1918/19 aufgezwungene
parlamentarische Demokatie von Weimar als "Republik auf Zeit" (W. Ruge)
betrachteten, sie zunehmend als Hemmnis der Profitmaximierung, der
Revanchepolitik und Wiederaufrüstung empfanden;
- dass die führenden Unternehmerverbände dies bereits 1927 deutlich artikulierten und 1929 lauthals verkündeten;
- dass
mit dem Übergang zur Präsidialdiktatur 1930 sich ein
antiparlamentarisches, autoritäres Regime entwickelte, das
einerseits offen Demokratieabbau betrieb, andererseits mit den
faschistischen und faschistoiden Kräften zunehmend kollaborierte;
- dass alle bürgerlichen Parteien diesen Kurs unterstützten oder sogar forcierten;
- dass
die Sozialdemokratie diesen Kurs als angeblich "kleineres Übel"
offen "tolerierte", ihn ermöglichte (und hinter den Kulissen auch
akzeptierte) und als Regierungspartei (vor allem in Preußen) an
seiner Durchsetzung mitwirkte. [1]
Und ausgeblendet wird
auch, dass die KPD - zunehmend unterstützt durch andere
antifaschistische, teilweise auch bürgerlich-demokratische,
pazifistische, linke christliche Kreise, soziale Bewegungen,
Initiativen usw. - dieser gefährlichen Entwicklung Widerstand
entgegensetzte, der in der Antifaschistischen Aktion seit Ende Mai 1932
kulminierte, und eine antifaschistische Alternative aufzeigte. Es gab eine Chance Die
Reichstagswahlen am 6. November 1932 zeugten von einer Veränderung
des politischen Kräfteverhältnisses zuungunsten der Reaktion.
Die faschistische Nazipartei erlitt eine schwere Niederlage - sie
verlor zwei Millionen Stimmen. Der Rückgang ihres politischen
Einflusses löste in der Nazipartei eine tiefe Krise aus, die auch
Auflösungserscheinungen zeitigte. Dabei war der Tiefpunkt offenbar
noch nicht erreicht. Ihre Stimmenverluste setzten sich fort bei der
Lübecker Bürgerschaftswahl und den sächsischen
Kommunalwahlen am 13. November und bei den Kommunalwahlen in
Thüringen - wo sie seit August regierte - am 4. Dezember. Beredtes
Zeugnis legt das Tagebuch ihres Reichspro- pagandaleiters Joseph
Goebbels ab. 7. November: "Auf dem Berliner Gau herrscht eine sehr
gedrückte Stimmung ..." 10. November: "Überall tauchen nun
Ärger, Streit und Mißhelligkeiten auf." 11. November:
"Kassenlage der Berliner Organisation ... ist ganz trostlos." 6.
Dezember: "Die Lage im Reich ist katastrophal. In Thüringen haben
wir seit dem 31. Juli nahezu 40 Prozent Verluste erlitten." Gregor
Straßer, der "zweite Mann" nach Hitler, legt alle seine
Ämter nieder. 8. Dezember: "In der Organisation herrscht schwere
Depression. ... Die Inspekteure der Partei sind beim Führer
versammelt. ... die Gefahr besteht, daß die ganze Partei
auseinanderfällt ... Der Führer ... verbittert ... sagt nur:
'Wenn die Partei einmal zerfällt, dann mache ich in 3 Minuten mit
der Pistole Schluß.'" [2] Die KPD hatte über 600.000
Stimmen - mehr als jede andere Partei - hinzugewonnen, nunmehr fast 6
Millionen erreicht und mit einem Stimmenanteil von 16,9 % ihre Position
als drittstärkste deutsche Partei gefestigt. Die SPD hatte
wiederum über 700.000 Wähler verloren. Die Wahlen
widerspiegelten die politische Wirkung der Antifaschistischen Aktion
und der Herbststreikwelle gegen Papens Notverordnungen. Sie zeigten die
Chancen für eine Zurückdrängung der faschistischen
Gefahr durch gemeinsames oder paralleles Handeln der antifaschistischen
Kräfte, vor allem der Arbeiterparteien und -organisationen. Am 17.
November trat Papen zurück. Die Reaktion muss lavieren Die
eklatante Wahlniederlage der Nazis hatte vor allem die Kreise des
Finanzkapitals, des Junkertums und des Militärs alarmiert, die am
entschiedensten nach der faschistischen Diktatur drängten und nun
einen Niedergang der Nazipartei und damit ein Scheitern ihrer
Pläne befürchteten. Einer ihrer Akteure, der Kölner
Bankier Kurt v. Schröder, erklärte dazu während des
Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses: "Die allgemeinen
Bestrebungen der Männer der Wirtschaft gingen dahin, einen starken
Führer in Deutschland an die Macht kommen zu sehen, der eine
Regierung bilden würde, die lange an der Macht bleiben würde.
Als die NSDAP am 6. November 1932 ihren ersten Rückschlag erlitt
und somit also ihren Höhepunkt überschritten hatte, wurde
eine Unterstützung durch die deutsche Wirtschaft besonders
dringend. Ein gemeinsames Interesse der Wirtschaft bestand in der Angst
vor dem Bolschewismus ... Ein weiteres gemeinsames Interesse war der
Wunsch, Hitlers wirtschaftliches Programm in die Tat umzusetzen, wobei
ein wesentlicher Punkt darin lag, daß die Wirtschaft sich selbst
lenken sollte ..." [3] Ein Ausdruck dessen war die bekannte, von
Hjalmar Schacht initiierte Eingabe einer Reihe führender Vertreter
des Finanzkapitals und des Junkertums (Schwerindustrielle wie Thyssen,
ferner Vögler, Reusch und Springorum - die nicht öffentlich
unterzeichneten, aber intern ihre Unterstützung erklärten -,
Bankiers wie Reinhart und der schon genannte v. Schröder, der
Kali-Magnat Rosterg, Großgrundbesitzer wie Graf Kalckreuth), die
dem Reichspräsidenten bereits am 19. November übergeben wurde
und ihn aufforderte, Hitler als Reichskanzler zu berufen. Zunächst
setzten sich jedoch Kräfte durch, die es für vordringlich
hielten, die Erregung der Arbeitermassen zu dämpfen, unter allen
Umständen deren einheitliches Handeln zu hintertreiben und sowohl
die Führer der SPD und der Gewerkschaften einzubinden als auch die
Nazipartei bzw. Teile von ihr stärker heranzuziehen. In diesem
Sinne übernahm der Repräsentant der Reichswehrführung,
General v. Schleicher, am 3. Dezember das Reichskanzleramt. "Kampf gegen die Kommunisten!" Unter
diesen Umständen kam der SPD eine Schlüsselrolle zu. Im
Parteiausschuss der SPD, der am 10. November über das weitere
Vorgehen beriet, wurde festgestellt, dass bei den "Genossen im Lande
draußen" der "Wunsch nach einer Einheitsfront"[4] sehr lebhaft
sei. Jedoch wurde dies als negative Erscheinung gewertet. Die
größte Besorgnis wurde über die zunehmenden
Wählerverluste und den rasch wachsenden Einfluss der KPD
geäußert. Aus der Tatsache, dass bei den Reichstagswahlen im
Juli über 600.000 und im November noch einmal über 700.000
Wähler der SPD den Rücken gekehrt und sich im wesentlichen
der KPD zugewandt hatten, zog der Parteiausschuss die Schlussfolgerung,
den Kampf gegen die Kommunisten zu verschärfen. Richard
Lipinski verwies warnend auf "die Gefahr, daß in kurzer Zeit bei
anhaltender Krise und Neuwahlen die Kommunisten uns überholen"
[5]. Rudolf Breitscheid fand gerade im Wahlerfolg der KPD den
"stärksten Grund zum Nachdenken" und warf die Frage auf, "was wir
tun können und tun müssen, um ein weiteres Anwachsen der
Kommunisten zu verhindern". Und er schlussfolgerte, "daß wir uns
auf den schärfsten Kampf gegen die Kommunisten einzustellen haben"
[6]. Dem stimmten auch Vertreter des linken Flügels zu. Sehr
aufschlussreich ist die Argumentation Karl Böchels: "Wir sind im
Endspurt mit den Kommunisten. Wir brauchen nur noch ein Dutzend Mandate
zu verlieren, dann sind die Kommunisten stärker als wir.
Wißt Ihr, was das bedeutet? … dann gibt es kein Halten
mehr. Dann sagen sich die Genossen, die treu zur Partei gestanden
haben, nun hat die Volksstimmung entschieden, und sie werden versuchen,
schnell herauszukommen." [7] Das Konkurrenzdenken, der
Ausschließlichkeitsanspruch verschlossen den Blick auf die
gefährliche politische Realität. Die vom Parteivorsitzenden
Otto Wels ausgegebene Parole "Kampf gegen die Kommunisten!" [8] fand
einhellige Zustimmung. Übrigens: Hitlers
Reichspropagandaleiter Goebbels notierte am Tage nach dieser
antikommunistischen Kursbestimmung der SPD-Spitzen: "Unsere Attacken
gegen die KPD. müssen jetzt mit größerer Schärfe
vorgetragen werden." Und am 15. November: "Ich gebe unserer Presse den
neuen Kurs an: Scharf gegen die KPD, sonst splendid isolation." [9] Die
verschärfte antikommunistische Frontstellung der SPD
korrespondierte mit einer zunehmenden Unterschätzung der
faschistischen Gefahr. Die Wahlniederlage der Nazipartei wurde als
entscheidende Niederlage des Faschismus bewertet. [10] Auch die Rolle
der Regierung Schleicher wurde völlig verkannt, im Reichstag am 6.
Dezember sogar der kommunistische Misstrauensantrag niedergestimmt.
Diese Fehleinschätzungen desorientierten die SPD, die Freien
Gewerkschaften und das Reichsbanner und lähmten das in diesen
Organisationen vereinte große antifaschistische Potenzial. Sie
widerspiegelten besonders die isolierte Betrachtung der Nazipartei, das
Nichterkennen des Faschisierungskurses als bestimmende Orientierung der
Hauptkräfte der Großbourgeoisie und die Blindheit für
die Rolle des Staatsapparates im Faschisierungsprozess. In seiner
Betrachtung zu Neujahr 1933 behauptete der "Vorwärts", der
Hitlerfaschismus habe bei der Hochfinanz, bei Schwerindustrie und
Großgrundbesitz längst abgewirtschaftet. [11] Aus gleichem
Anlass brüstete sich Ernst Heilmann in "Das freie Wort", auch
einem Sprachrohr des SPD-Vorstandes: "Wir haben nicht nur den
faschistischen Ansturm zum Stehen gebracht, wir haben die faschistische
Gefahr der Gefährlichkeit beraubt." [12] "Die politische Aufgabe
des Tages" - so der Titel eines Artikels - erblickte dieses SPD-Organ
in der "Vernichtung der KPD bis auf unbelehrbare, sektenhafte Reste"
[13] und bezeichnete die von immer mehr Mitgliedern und
Funktionären der SPD erhobene Forderung nach einer Einheitsfront
mit den Kommunisten als "kindische Utopie". General Schleicher - Platzhalter Hitlers! Auf
dem KPD-Bezirksparteitag Wasserkante am 4. Dezember nahm Ernst
Thälmann grundsätzlich zum Wesen der Schleicher-Regierung und
ihrer Perspektive Stellung. Er sprach vom "Versuch einer gewissen
Einigung zwischen verschiedenen Gruppierungen" des Großkapitals
bei stärkerem Einfluss der Schwerindustrie und einem erhöhten
Gewicht des Militärs, auch als eine "Sicherungsmaßnahme
gegen drohende Generalstreikaktionen im kommenden Winter".
Zusammenfassend urteilte er: "Wir müssen das Schleicher-Kabinett
als ein Übergangskabinett, als ein Platzhalterkabinett zur
Vorbereitung einer Hitlerkoalition bzw. Hitlerregierung ansehen. ...
Jede Unterschätzung der Schleicher-Diktatur bedeutet heute eine
sehr große Gefahr!" Deshalb wandte er sich auch gegen "das
Gerede der Sozialdemokratie, als sei eine 'Entspannung' des
Klassenkampfes eingetreten!" Ganz im Gegenteil! "Wir müssen gegen
Überrumpelungsmanöver und sensationelle, überraschende
Angriffsmaßnahmen gewappnet sein." Was die Schleicher-Regierung
bewirke, wohin sie führe, das hänge vor allem von der
Aktionsfähigkeit und Kraftentfaltung der Arbeiterklasse und
anderer werktätiger Schichten ab. Deshalb "rufen wir den
Reichsbannerkameraden, den Gewerkschaftskollegen und auch den
unorganisierten Klassengenossen zu: Wir müssen uns unten in den
Betrieben und an den Stempelstellen verbrüdern." [14] Eingebettet
in die Antifaschistische Aktion entwickelte die KPD seit Mitte November
eine Kampagne gegen Hunger und Frost, um die Lage der Werktätigen
im bevorstehenden Winter zu erleichtern, die Selbsthilfe der Massen zu
entwickeln und der sozialen Demagogie der Nazis entgegenzuwirken. Wichtige
Beispiele realer antifaschistischer Einheitsfront entwickelten sich
nach den Kommunalwahlen. Mancherorts ergab sich die Möglichkeit,
durch das Zusammenwirken der Fraktionen der KPD und der SPD die Wahl
von Nazifaschisten in die Vorstände der Kommunalparlamente zu
verhindern. In den Stadtverordnetenversammlungen von Leipzig und
Meißen stimmten die Kommunisten für den SPD-Kandidaten und
verhinderten damit, dass ein Nazi Präsident wurde. In Chemnitz
wiederum wurde durch die Unterstützung der Sozialdemokraten der
Kommunist gewählt. Die Schreibweisen in Zitaten entsprechen
dem Original. Ein zweiter und abschließender Teil dieses Beitrags
folgt im Dezemberheft. Anmerkungen: [1]
Vgl. H. Karl: Antifaschistische Aktion. In: Mitteilungen der KPF,
5/2012, S. 27 ff (an diesen Artikel knüpft der vorliegende an);
ders.: Faschisierung und antifaschistischer Abwehrkampf. In:
GeschichtsKorrespondenz, Mai 2012, S. 3 ff. [2] J. Goebbels: Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei, München 1934, S. 197, 200, 217-220. [3] Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 4, Berlin 1966, S. 606. [4]
Anpassung oder Widerstand? Aus den Akten des Parteivorstandes der
deutschen Sozialdemokratie 1932/1933. Hrsg. u. bearb. v. H. Schulze,
Bonn/Bad Godesberg (1975), S. 44. [5] Ebenda, S. 37. [6] Ebenda, S. 45. [7] Ebenda, S. 53, 55. [8] Ebenda, S. 19. [9] J. Goebbels: Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei, S. 201, 203. [10] Vgl. Vorwärts, 6. Dezember 1932 (Morgenausgabe). [11] Vgl. Vorwärts, 1. Januar 1933 (Morgenausgabe). [12] Das freie Wort, H. 1/1933, S. 1. [13] Das freie Wort, H. 52/1932, S. 20/21. [14]
E. Thälmann: Ausgewählte Reden und Schriften in zwei
Bänden, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1977, S. 317, 316, 318, 321. Quelle: http://www.die-linke.de/nc/partei/zusammenschluesse/kommunistischeplattformderparteidielinke/ mitteilungenderkommunistischenplattform/detail/artikel/november-1932-wird-hitler-gestoppt-teil-1/ November 1932: Wird Hitler gestoppt? (Teil 2 und Schluss) aus: Dezember 2012 | Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der Partei DieLinke Prof. Dr. sc. Heinz Karl, Berlin Intrigen, Terror und Widerstand Sehr
bald erwies sich, wie präzis Thälmanns Beurteilung der
Schleicher-Regierung war, und wie realitätsfern die
bürgerlichen und sozialdemokratischen Prognosen. Am 4. Januar 1933
verhandelten Papen (im Auftrag des Reichspräsidenten) und Hitler
in Köln beim Bankier v. Schröder über die Bildung einer
faschistischen Koalitionsregierung. Am 7. Januar traf Hitler sich bei
Kirdorf mit führenden Unternehmern, am 17. Januar verhandelte er
mit Hugenberg, am 18. und 22. Januar wieder mit Papen. Für
die ausschlaggebenden Kräfte des Großkapitals und die mit
ihnen verbundenen politischen und militärischen Machteliten waren
die faschistische Nazipartei und ihr Chef die optimale politische
Variante. Mit ihnen verband sich mehr als mit jeder anderen politischen
Kraft die Erwartung auf eine rücksichtslose, vor nichts
zurückschreckende Durchsetzung ihrer Profit- und Machtinteressen,
der hemmungslosen terroristischen Bekämpfung aller Gegner dieser
Interessen, verbunden mit der weitgehenden (alle reaktionären
Konkurrenten übertreffenden) Fähigkeit, durch skrupelloseste
und dreisteste Demagogie Massen irrezuführen, sie systematisch zu
beeinflussen und längerfristig zu kontrollieren. Aus diesen
Besonderheiten erklärt sich auch, dass sie nach der ihre
Förderer enttäuschenden Wahlniederlage vom November nicht
fallengelassen, sondern gestützt wurden. Diese fieberhaften
Aktivitäten hinter den Kulissen verbanden die Nazis mit einer
demonstrativen Steigerung ihres Terrors: in der Neujahrsnacht zwei
Morde in Berlin und Überfälle in Hamburg, Wanne-Eickel,
Trier, Delitzsch, Glogau und anderen Orten; an einem einzigen Tag, am
12. Januar, Terrorakte in Berlin, Köln, Breslau, Duisburg,
Chemnitz, Koblenz, Meißen und Detmold; an die 200 Verletzte in
nur zwei Wochen; Überfälle auf Arbeiterlokale,
Konsumläden und Erholungsheime. Den faschistischen
Provokationen begegnete antifaschistischer Widerstand. In der ersten
Januarhälfte demonstrierten in Berlin, Leipzig, Essen, Dortmund,
Bochum, Stuttgart, Kassel und vielen anderen Orten viele Tausende gegen
die Schleicher-Regierung und den braunen Mordterror. Als die
Verhandlungen zwischen den verschiedenen ultrareaktionären
Gruppierungen über eine Regierungskoalition in ihre entscheidende
Phase traten, inszenierte die Nazipartei, um ihr politisches Gewicht
als stärkste und aktivste Partei der bürgerlichen Reaktion zu
demonstrieren, eine großangelegte Provokation in der
Reichshauptstadt. Am 22. Januar marschierten mehrere tausend Mann SA,
beschützt von einem weit größeren Polizeiaufgebot, vor
dem Karl-Liebknecht-Haus - dem Sitz des ZK der KPD - auf, begleitet vom
Protest Tausender Antifaschisten. Die Polizei löste allein 19
Gegendemonstrationen auf, während die Berliner Nazi-Anhänger
sich fernhielten. Die Nazi-Provokation wurde damit beantwortet, dass am
25. Januar 130.000 Berliner vier Stunden lang bei 18 Grad Frost am
Karl-Liebknecht-Haus vorbeizogen, wo sie von Ernst Thälmann, John
Schehr, Walter Ulbricht, Wilhelm Florin und Franz Dahlem
begrüßt wurden. Gleichzeitig fanden in Spandau und
Oberschöneweide Parallelkundgebungen statt. Am 28. Januar
trat Schleicher zurück, da Hindenburg ihm jede weitere
Unterstützung, vor allem eine neuerliche Reichstagsauflösung
(die Hitler vehement ablehnte, vor der aber auch die SPD bangte - beide
Parteien befürchteten weitere Verluste), versagte. Am
nächsten Tage erschien "Die Rote Fahne", das Zentralorgan der KPD,
unter der Schlagzeile "Alarm! Alarm!" Sie warnte vor dem
"faschistischen Generalangriff", der Bildung eines Hitlerkabinetts, und
erklärte, "der ganzen ungeheuerlichen Reichweite der kommenden
Ereignisse für das weitere Schicksal des deutschen Proletariats
bewußt, wiederholen die Kommunistische Partei und die RGO ihr
schon am 20. Juli vorigen Jahres gemachtes Einheitsfrontangebot". Auch
die Bezirksorganisationen der KPD wandten sich umgehend mit Aufrufen zu
Streiks und Demonstrationen an die Bevölkerung. Die Bezirksleitung
Ruhrgebiet erklärte: "Wenn ihr, sozialdemokratische
Klassenbrüder und Reichsbannerkameraden, gemeinsam mit uns
aufmarschiert und gemeinsam mit uns zur Waffe des politischen
Massenstreiks gegen eine Papen-Hitler-Regierung greift, dann sehen wir
in unserer kämpfenden Einheitsfront eine unüberwindliche
Kraft!" [1] Die KPD-Organisationen mobilisierten ihre Mitglieder zur
Teilnahme an den von den Behörden zugelassenen Kundgebungen der
SPD am 29. Januar. An diesem Tage einigten sich Hitler und Papen
endgültig über die Zusammensetzung der faschistischen
Koalitionsregierung. Am 30. Januar 1933 ernannte Reichspräsident
v. Hindenburg Hitler zum Reichskanzler. Doch dies ist schon ein neues
Thema, das im Rahmen dieses Artikels nicht erörtert werden kann. Gab es eine Alternative? War
der schließliche Erfolg der zur faschistischen Diktatur
drängenden bürgerlichen Reaktion unvermeidlich? Das ist eine
zentrale, aber auch außerordentlich komplizierte Frage. Man kann
sie weder mit Ja noch mit Nein unwiderlegbar beantworten. Sicher ist
nur zweierlei: Zum einen, dass dieses faschistische Regime von den
ökonomischen, politischen, militärischen und
bürokratischen Machteliten des bürgerlichen Deutschland
erstrebt und durchgesetzt wurde. Zum anderen, dass alle politischen
Entscheidungen, die zu diesem Ergebnis führten, nicht durch die
Bürger, die Wähler, die Massen, sondern durch diese
Machteliten getroffen wurden. Nicht Wahlen entschieden, sondern
Lobbyismus und Intrigen. Bezeichnend ist, dass ausgerechnet der
große Verlierer der erst kurze Zeit zurückliegenden
allgemeinen Wahlen, der Chef der in der Novemberwahl schwer
angeschlagenen Nazipartei, an die Spitze der Regierung gelangt. Gab
es eine Kraft, die dies hätte verhindern, die Bestrebungen und
Ränke der Machteliten hätte durchkreuzen können? Die -
insbesondere seit den 90er Jahren - wiederholt vorgetragene Auffassung,
auch eine gemeinsam handelnde Arbeiterbewegung hätte keine Chance
gehabt, wurde jedoch nie auch nur annähernd begründet. Ich
meine, übereinstimmend mit Wolfgang Abendroth und Willy Brandt,
dass gerade in der aktiv und koordiniert auftretenden Arbeiterbewegung
- wie beim Kapp-Putsch 1920 - der Schlüssel des Erfolges gelegen
hätte. Ausschlaggebend für die schrittweise
Realisierung der faschistischen Bestrebungen war das Handeln (die
Handlungsfähigkeit und -bereitschaft) staatlicher Machtorgane und
ihrer bewaffneten Kräfte (Reichswehr und Polizei). Und diese
handelten, weil sie sicher waren, keinem geschlossenen Widerstand zu
begegnen. Ihre Taktik war stets darauf gerichtet, eine solche Situation
unter allen Umständen zu vermeiden. Ohne die durch Erfahrung
geprägte Gewissheit, dass die SPD-Führung kampflos
kapitulieren würde, wäre der Papen-Putsch am 20. Juli 1932
nicht inszeniert worden. Dies bestimmte auch das Handeln der Reaktion
im Herbst 1932 und Januar 1933. Warum kam die Aktionseinheit der
Arbeiterbewegung, deren Kern nur das Zusammenwirken der beiden
großen Arbeiterparteien sein konnte, nicht zustande?
Ausschlaggebend dafür war, dass - wie oben (vor allem im
Zusammenhang mit der grundsätzlichen Entscheidung des
SPD-Parteiausschusses am 10. November 1932) ausführlich belegt -
der entscheidende potenzielle Partner der KPD, die die Politik von SPD
und ADGB bestimmenden Kräfte grundsätzlich (und völlig
unabhängig von der Politik und dem konkreten Verhalten der KPD!)
gegen eine Zusammenarbeit waren. Jedoch wäre bei einem
konsequenteren und überzeugenderen Bemühen der KPD um ein
Zusammengehen mit der Sozialdemokratischen Partei, ihren offiziellen
Strukturen und Führungsgremien, bei genereller und rascherer
Überwindung sektiererischer, provozierender, emotionsgeladener
Parolen der Druck auf die sozialdemokratischen Führungskräfte
größer und vielleicht ausreichend gewesen, um sie zum
Einlenken zu bewegen. Natürlich hätte ein
Zustandekommen der Einheitsfront nicht automatisch den Erfolg
garantiert - dafür war das politische und gesellschaftliche
Kräfteverhältnis viel zu labil und unsicher (aber eben
für beide Seiten). Aber sie wäre die unumgängliche
Voraussetzung eines möglichen Erfolges gewesen. Anmerkung: [1] Die Antifaschistische Aktion. Dokumentation und Chronik, Berlin 1965, S. 348. Quelle: http://www.die-linke.de/nc/partei/zusammenschluesse/kommunistischeplattformderparteidielinke/ mitteilungenderkommunistischenplattform/detail/artikel/november-1932-wird-hitler-gestoppt-teil-2-und-schluss/ |