01.06.2012 Hitlers
Wegbereiter Geschichte.
Vor 80 Jahren wurde der Keppler-Kreis gegründet –
Bemerkungen zum Verhältnis von Großkapital und NSDAP Von
Reiner Zilkenat Die Legendenbildungen zu den Ursachen
der Machtübergabe an die NSDAP begannen bereits am 30. Januar
1933. Die deutschen Faschisten selbst sprachen von
»Revolution« und
»Machtergreifung«. Bürgerliche Autoren
haben diese terminologischen Verschleierungsmanöver der Nazis
übernommen, zu denen auch die Selbstbezeichnung der deutschen
Faschisten als »Nationalsozialisten«
gehört. Sie sind hierzulande Allgemeingut in den
Schulbüchern und den herrschenden Medien sowie in den am
meisten verbreiteten Darstellungen zur Geschichte des Faschismus. Derartige
Praktiken dienen seit mittlerweile acht Jahrzehnten einem einzigen
Ziel: Ein genetischer Zusammenhang zwischen der Entstehung und dem
Wachstum der Nazibewegung einerseits und der herrschenden
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung andererseits
sowie die aktive Unterstützung der Faschisten durch
einflußreiche Kreise des Großkapitals
dürfen um keinen Preis in das Geschichtsbewußtsein
breiter Bevölkerungskreise eindringen; sie müssen
auch im akademischen Betrieb unerwünschte, ja beschwiegene
Themen bleiben. Die berühmte Formulierung Max Horkheimers:
»Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom
Faschismus schweigen«, so heißt es, sei durch
empirische historische Forschung gegenstandslos geworden.1 Die
politischen Motive derartiger Geschichtsfälschungen hat einst
der US-amerikanische Historiker Henry A. Turner mit folgenden Worten
definiert: »Entspricht die weitverbreitete Ansicht,
daß der Faschismus ein Produkt des modernen Kapitalismus ist,
den Tatsachen, dann ist dieses System kaum zu verteidigen. Ist diese
Meinung jedoch falsch, dann ist es auch die Voraussetzung, auf der die
Einstellung vieler Menschen zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung
beruht.«2 Eine der Tatsachen, welche die
Unterstützung der deutschen Monopolbourgeoisie belegen, ist
die Gründung eines Kreises deutscher Unternehmer und Bankiers
um den Chemieindustriellen Wilhelm Keppler im Frühjahr 1932.
Um die Bedeutung dieses Kreises einordnen zu können, empfiehlt
es sich, einen Blick auf das Verhältnis von
Großkapital und Faschismus in der Weimarer Republik zu werfen. Monopolherren und Nazibewegung Schon
bevor die NSDAP eine wähler- und mitgliederstarke Partei
wurde, galt ihr und ihrem selbsternannten
»Führer« Adolf Hitler das Interesse
einflußreicher Herren aus den Vorstandsetagen deutscher
Monopole. Hinter verschlossenen Türen wurde Hitler immer
wieder die Gelegenheit geboten, seine politischen Ansichten und Ziele
unverblümt auszuplaudern – ohne die lästige
Rücksichtnahme auf die ansonsten in der
Öffentlichkeit verkündeten Phrasen über
einen angeblich angestrebten »nationalen
Sozialismus«. Meilensteine derartiger Auftritte bildeten
seine Rede vor dem renommierten »Hamburger Nationalklub von
1919« im Februar 1926 und mehrere Ansprachen vor
Großkapitalisten und Managern an Rhein und Ruhr im selben und
im darauffolgenden Jahr. Hier bejubelten die
anwesenden Herrschaften regelmäßig die von Hitler
artikulierten politischen Auffassungen, bei denen es im Kern stets um
die Notwendigkeit einer Vernichtung der Organisationen der
Arbeiterbewegung, die Zerstörung der
bürgerlich-parlamentarischen Demokratie und um die
zielstrebige politische, ideologische und materielle Vorbereitung eines
zweiten »Griffs nach der Weltmacht« durch den
deutschen Imperialismus ging. Derartige Auffassungen
waren durchaus kompatibel mit den Vorstellungen
einflußreicher Exponenten des Monopolkapitals. Ihr
Verhältnis zur Weimarer Republik war vornehmlich taktischer
Natur: Die in der Novemberrevolution und danach von der Arbeiterklasse
erkämpften politischen und sozialen Errungenschaften wurden
von ihnen nur so lange anerkannt, wie sie dazu beitrugen, in der Zeit
der revolutionären Nachkriegskrise die kapitalistischen
Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse stabilisieren zu
helfen. So schnell als möglich wollten sie z.B. den
Acht-Stunden-Arbeitstag, die Anerkennung der Gewerkschaften als
gleichberechtigte Tarifpartner, die Ausbreitung des kommunalen
Wohnungsbaus und besonders die Ausgestaltung der staatlichen
Sozialpolitik wieder außer Kraft setzen. Vor allem: Sollte
endlich der Zeitpunkt herangereift sein, um den im eigenen Kontor
praktizierten »Herr-im-Hause«-Standpunkt
kompromißlos auf den Staat übertragen zu
können, so galt es, zielgerichtet zu handeln. Als politischer
Bündnispartner spielte die faschistische Partei mangels
Massenanhang dabei zunächst nur eine untergeordnete Rolle. Doch
seit dem September 1930, nachdem bei den Wahlen zum Reichstag die zuvor
unbedeutende NSDAP zur zweitstärksten Partei avanciert war,
wurde für die Vertreter des deutschen Großkapitals
die Frage akut: »Wie halten wir’s mit der
NSDAP?« Enge
Beziehungen Einige einflußreiche Exponenten
der Monopole und ihrer Interessenverbände hatten
frühzeitig enge Beziehungen zu den Faschisten
geknüpft. Sie waren seit 1930 an führender Stelle
daran beteiligt, die Nazis salonfähig zu machen mit dem Ziel,
ihnen Regierungsverantwortung zu übertragen. Zu
den Propagandisten »der ersten Stunde« aus jenen
Kreisen zählten vor allem Emil Kirdorf und Fritz Thyssen. Der
1847 geborene Kirdorf galt als der »große, alte
Mann« an Rhein und Ruhr. Von 1893 bis 1926 amtierte er als
Generaldirektor des größten Bergbauunternehmens in
Deutschland, der Gelsenkirchener Bergwerks-AG. Auch in den Jahren
danach genoß Kirdorf große Autorität und
behielt beträchtlichen Einfluß unter den
Monopolherren der Schwerindustrie. Im Juli 1927 schloß er
sich der NSDAP an und spendierte der faschistischen Partei als
»Eintrittsgebühr« 100000 Mark. Im Juli
1927 organisierte Kirdorf in seinem Haus ein exklusives Treffen Hitlers
mit führenden Industriellen. Bereits ein Jahr später
verließ er jedoch wieder die NSDAP. Für
bürgerliche Historiker wird dies stets als Beleg für
seine schnell vollzogene »Entfremdung« von der
Nazipartei angeführt. Die Fakten vermitteln jedoch ein anderes
Bild. Denn die Motive für seinen Parteiaustritt waren
keineswegs grundsätzlicher Natur. In einer
persönlichen Stellungnahme über seine Beziehungen zur
Nazipartei formulierte er, daß die NSDAP »im Revier
eine Richtung einschlug, gegen die ich mich wenden
mußte«. Für Hitler empfinde er jedoch
weiterhin »warme Freundschaft und
Hochschätzung«3. Warum ist es wichtig, an diese
Episode zu erinnern? Zum einen bezog sich das, was hier als die
»Richtung« der NSDAP »im
Revier« umschrieben wird, auf die in der Parteipropaganda
stark akzentuierte »sozialistische« Phraseologie,
die dem Ziel diente, den beiden Arbeiterparteien KPD und SPD
möglichst viele Anhänger und Wähler
abspenstig zu machen. Die NSDAP im Ruhrgebiet hatte durch entsprechende
propagandistische Aktivitäten tiefes Mißtrauen bei
den Herren der Schwerindustrie verursacht. Kirdorf
und andere Industrielle befürchteten, daß hier eine
Büchse der Pandora geöffnet wurde und die lauthals
postulierten Ziele eines Kampfes gegen das »raffende
jüdische Kapital« und die
»Plutokraten« sich am Ende gegen sie selbst richten
könnten. Kirdorf blieb der NSDAP eng verbunden, auch wenn er
jetzt innerhalb der vom Medienmogul Alfred Hugenberg geführten
Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) agierte. So war er u.a. Ehrengast
auf dem Parteitag der NSDAP 1929 in Nürnberg, spendierte
Hitler weiterhin bedeutende Summen aus eigener Tasche und wurde
folgerichtig im »Dritten Reich« der Faschisten mit
dem Goldenen Parteiabzeichen geehrt. Fritz Thyssen
zählte wie Kirdorf zu den mächtigsten Exponenten der
Schwerindustrie an Rhein und Ruhr. Seit der Bildung der Vereinigten
Stahlwerke AG im Jahre 1926, des größten
schwerindustriellen Konzerns in Europa, amtierte er als Vorsitzender
des Aufsichtsrates. Außerdem war er Mitglied des
Präsidiums des Reichsverbandes der Deutschen Industrie (RDI)
und der »Ruhrlade«. Dabei handelte es sich um einen
im verborgenen wirkenden Kreis von Großindustriellen des
Ruhrgebietes, die für bürgerliche Parteien,
einschließlich der NSDAP, finanzielle Mittel für die
Organisierung von Wahlkämpfen sowie für die
Herausgabe von »industriefreundlichen« Zeitungen
bereitstellten. Thyssen hatte bereits 1923 die
Bekanntschaft Hitlers gemacht und ihm im Mai 1930 100000 Mark zur
Verfügung gestellt, die den Ankauf einer
repräsentativen Immobilie in München
ermöglichten, um hier das »Braune Haus«
als Parteizentrale der Nazipartei einzurichten. Am 1. Mai 1931 war er
formell der NSDAP beigetreten. Großes Aufsehen erregte
Thyssen, als er am 27. November 1930 bei einer Tagung des
Hauptausschusses des RDI den anwesenden Reichskanzler Heinrich
Brüning direkt angriff. Der sensationelle Wahlerfolg der NSDAP
lag gerade zwei Monate zurück: »Die politische
Führung, die wir bisher hatten, war keine glückliche.
Man kann sich nicht wundern, wenn angesichts dieser Tatsache eine
Bewegung im Reiche entsteht, wie sie sich bei den letzten Wahlen
gezeigt hat. Ich möchte nur wünschen, Herr
Reichskanzler, daß es Ihnen gelingt, die Bewegung aller
nationalen Kreise hinter sich zu ziehen; denn ich glaube, daß
erst dann Sie vollen Erfolg mit Ihren Absichten haben
werden.«4 Neben ablehnendem
»Zischen« vermerkt das Protokoll auch Beifall
für diese Ausführungen Thyssens, die eine
unverzügliche Regierungsbeteiligung der NSDAP beinhalteten.
Doch die Zeit schien dafür noch nicht reif zu sein. Wirtschaftspolitische
Dissonanzen Der Wahlerfolg der Faschisten bei den
Reichstagswahlen im September 1930 blieb jedoch keine Ausnahme. Im
Gegenteil erzielten die Nazis bei den Landtagswahlen seit 1930
herausragende Ergebnisse, so daß sie mittlerweile in
Thüringen (Januar 1930) und Braunschweig (September 1931)
Regierungsverantwortung trugen. Zugleich wurde die NSDAP zu einer
mitgliederstarken Massenpartei. Die
»Sturmabteilungen« (SA) wuchsen zu einer wahren
Bürgerkriegsarmee heran, die vor allem die
Arbeiterorganisationen mit gewaltsamen Aktionen provozierte.
Offensichtlich handelte es sich bei der NSDAP und ihren
»Vorfeldorganisationen« nicht um ein kurzlebiges
Phänomen. Die Haltung großindustrieller Kreise zur
faschistischen Partei bedurfte somit dringend einer Klärung. Dabei
existierten vornehmlich zwei bedeutsame Probleme. Erstens irritierte
die bereits oben genannte pseudosozialistische Propaganda der
faschistischen Partei. Innerhalb der NSDAP wurden vor allem die
Gebrüder Otto und Gregor Strasser als Exponenten
entsprechender Aktivitäten identifiziert. Otto Strasser hatte
im Juli 1930 allerdings mit der Parole »Die Sozialisten
verlassen die NSDAP« der Partei den Rücken gekehrt.
Sein Bruder Gregor, der für das vom Reichswehrminister bzw.
Reichskanzler Kurt von Schleicher 1932 favorisierte
»Querfront«-Bündnis mit der
Führung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB)
und der Christlichen Gewerkschaften große Sympathien zu
empfinden schien, blieb allerdings als Reichsorganisationsleiter der
NSDAP und wirtschaftspolitischer Sprecher im Reichstag einer ihrer
einflußreichsten Funktionäre. Mehrfach trat er
öffentlich für großangelegte, vom Staat
finanzierte Arbeitsbeschaffungsprogramme zur Überwindung der
kapitalistischen Weltwirtschaftskrise ein. Die Nähe zu
zeitgleich entwickelten Vorstellungen des ADGB war
unübersehbar. Nach Schleichers Vorstellungen, dessen
wirtschaftspolitische Pläne mit denen Strassers kompatibel
waren, hätte er, nicht Hitler, durchaus als Vizekanzler in ein
von ihm geführtes Kabinett eintreten können, dem
zugleich prominente Exponenten der Gewerkschaften angehören
sollten. Alles das ließ das Mißtrauen der
Großindustriellen in die politische
Verläßlichkeit der faschistischen Partei nicht ruhen. Zwar
hatten Adolf Hitler, Hermann Göring und Heinrich Himmler stets
glaubhaft versichert, daß sie nicht daran dächten,
die kapitalistische Gesellschaftsordnung anzutasten und
wirtschaftspolitische Experimente gemeinsam mit Herrn von Schleicher,
der Gewerkschaftsführung oder anderen politischen
Kräften anzustreben. Die pseudosozialistische Demagogie sollte
nur dazu dienen, »Eroberungen« innerhalb der
Arbeiterklasse und in den verelendeten Kreisen des Mittelstandes zu
realisieren. Doch wie sicher konnte man sein, daß sie
weiterhin die Richtlinien der Politik innerhalb der NSDAP
bestimmen würden? Zweitens galt es,
unterschiedliche ökonomische Interessen unter den deutschen
Großindustriellen ins Kalkül einzubeziehen, die sich
nicht zuletzt auf ihre Abhängigkeit vom Export bezogen, der
vor allem bei den Metall- und Elektrokonzernen stark
ausgeprägt war. Drittens war in Rechnung zu
stellen, daß die faschistische Partei, seit den
Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 die stärkste
parlamentarische Kraft, den Posten des Reichskanzlers für
Adolf Hitler beanspruchte. Als »Juniorpartner« in
ein Kabinett einzutreten und mit dem Amt eines Vizekanzlers abgefunden
zu werden, war für die NSDAP und die meisten ihrer
Anhänger nicht denkbar. Was war in dieser
Situation zu tun? Um die wirtschaftspolitischen Forderungen der Partei
mit den Vorstellungen des Großkapitals in Einklang zu bringen
sowie Hitler und die faschistische Partei für den Einzug in
die Reichskanzlei vorzubereiten, wurde ein Kreis prominenter
Industrieller und Bankiers aus der Taufe gehoben, die Hitler in diesen
Fragen kompetent »beraten« sollten. Ein Expertengremium Im
Mai 1927 wird ein mittelständischer Industrieller Mitglied der
NSDAP: Wilhelm Keppler. Fünf Jahre zuvor hatte er in Eberbach
am Neckar gemeinsam mit dem weltweit agierenden US-amerikanischen
Eastman-Kodak-Konzern die Chemischen Werke Odin GmbH
gegründet, die sich auf die Herstellung von Fotogelatine
spezialisierten. Keppler pflegte freundschaftliche Beziehungen zu
Robert Ley, Gauleiter der faschistischen Partei in
Rheinland-Süd, dem späteren
»Führer« der »Deutschen
Arbeitsfront«, sowie geschäftlichen Umgang mit dem
Kölner Privatbankier Kurt Freiherr von Schröder,
einem der eifrigsten Freunde Hitlers und seiner Partei. Keppler und
Adolf Hitler hatten seit ihrem ersten Zusammentreffen kurz nach dem
Parteieintritt des Chemieindustriellen häufig miteinander
kommuniziert. Als im Dezember 1931 die Frage zu beantworten war, wer
künftig als offizieller Wirtschaftsberater Hitlers fungieren
solle, fiel die Wahl auf Wilhelm Keppler. Hitler
übertrug ihm vor allem die Aufgabe, möglichst rasch
mit der Konstituierung eines aus prominenten
Wirtschaftsführern bestehenden Gremiums zu beginnen, das
für die NSDAP und deren »Führer«
nicht nur wirtschaftspolitische Expertisen ausarbeiten, sondern auch
innerhalb der Großindustrie für die
Machtübergabe an die Nazipartei Stimmung machen sollte.
Außerdem galt es, die wirtschaftspolitischen Kompetenzen
innerhalb der NSDAP neu zu ordnen. Keppler schaffte es binnen kurzer
Zeit, die Vorgaben Hitlers zu erfüllen. Allerdings
mußte er sich zunächst eines
»Konkurrenzunternehmens« erwehren. Hjalmar
Schacht, von 1923 bis 1930 Präsident der Deutschen Reichsbank,
hatte sich Hitler in einem vertraulichen Schreiben vom 12. April 1932
angedient, unter seiner Leitung eine
»Arbeitsstelle« einzurichten, da sich
»bei gemeinsamer Arbeit eine völlige
Übereinstimmung zwischen den Grundanschauungen des
Nationalsozialismus und der Möglichkeit privater Wirtschaft
erzielen läßt«.5 Schachts Arbeitsstelle
und Kepplers Industriellen-Kreis beendeten nach Hitlers Intervention
rasch ihr Konkurrenzverhältnis, so daß am Ende der
Keppler-Kreis der maßgebende Ort wurde, an dem das
wirtschaftspolitische Handeln der NSDAP konzipiert wurde. Wer
konnte zur Mitarbeit gewonnen werden? Genannt sei August Rosterg,
Generaldirektor des Deutschen Kalisyndikates und der Wintershall AG,
die bei Merkers das größte Kalibergwerk der Welt
bewirtschaftete. Wes Geistes Kind dieser Großindustrielle
war, demonstrierte er in einem Zeitungsartikel für die
Deutsche Bergwerkszeitung, als er seiner Meinung Ausdruck gab,
»die Hälfte aller Kranken sind
Simulanten«6, so daß drastische Kürzungen
der Ausgaben für die Sozialversicherungen gerechtfertigt seien. Ein
weiteres Mitglied des »Keppler-Kreises« war Ewald
Hecker. Seit 1923 amtierte er zunächst als Mitglied des
Vorstandes, dann als Vorsitzender des Aufsichtsrates der Ilseder
Hütte AG in Niedersachsen. Zugleich war er als
Präsident der Industrie- und Handelskammer zu Hannover
tätig und gehörte als stellvertretender Vorsitzender
dem Aufsichtsrat der Commerzbank an. Apropos Commerzbank. Mit Friedrich
Reinhart, Vorstandsmitglied des Kreditinstituts, und Franz Heinrich
Witthoefft, Vorsitzender des Aufsichtsrates, war diese
Großbank höchst prominent im
»Keppler-Kreis« repräsentiert.
Daß Witthoefft darüber hinaus Vizepräsident
des Deutschen Industrie- und Handelstages, Vorsitzender seines
Außenhandelsausschusses und Inhaber der weltweit engagierten
Hamburger Übersee-Handelsfirma Arnold Otto Meyer war, diente
als weitere Empfehlung für die Zugehörigkeit zu
diesem illustren Zirkel. Aber auch die beiden anderen
Großbanken waren mit von der Partie. Für die
Dresdner Bank arbeitete Emil Meyer, Mitglied des Vorstandes, im
»Keppler-Kreis mit. Die Deutsche Bank schätzte den
direkten Zugang zu Adolf Hitler. Georg von Stauß,
Vorsitzender des Vorstandes in Deutschlands wichtigstem Finanzinstitut
und Vorsitzender der Aufsichtsräte bei Daimler-Benz und BMW,
bei der Deutschen Lufthansa und den
Bergmann-Elektrizitätswerken, ging in Hitlers Berliner
Domizil, dem Hotel »Kaiserhof«, ein und aus. Aus
den Tagebüchern von Joseph Goebbels und von Hitlers
langjährigem Wirtschaftsberater Otto Wagener erfahren wir,
daß neben Gesprächen in Hitlers Suite immer wieder
verschwiegene Bootsfahrten auf dem Wannsee mit der Motoryacht des
Deutschbankers stattfanden. Auch der Vorstandsvorsitzende des
Allianz-Versicherungskonzerns, Dr. Kurt Schmitt, bevorzugte
Gespräche mit Hitler unter vier Augen im Hotel
»Kaiserhof«. Als bekennender Antisemit verstand er
sich offenbar prächtig mit dem
»Führer« der faschistischen Partei, der
ihn 1933 zum Reichswirtschaftsminister ernannte. Die
Industriellenfamilie Quandt, Großaktionäre bei
Daimler-Benz, den Mauserwerken AG und bei Varta, war geradezu ein
unentbehrlicher Bestandteil von Hitlers Entourage im
»Kaiserhof«. Täglich gab es
Gespräche, Ausflüge und gemeinsame Essen. Eines Tages
meldete sich Harald Quandt, gerade zehn Jahre alt, in Uniform und mit
umgeschnalltem Dolch bei Hitler mit den Worten: »Der
jüngste Hitler-Junge Deutschlands meldet sich bei seinem
Führer!« Doch zurück zum
»Keppler-Kreis«. Mit von der Partie waren
außerdem die schon erwähnten Bankiers Kurt Freiherr
von Schröder und Hjalmar Schacht sowie Rudolf Bingel,
Vorstandsmitglied der Siemens-Schuckert-Werke AG. Auch Emil Helfferich,
Aufsichtsratsvorsitzender der größten deutschen
Reederei, der Hamburg-Amerika-Linie (HAPAG), und Otto Steinbrinck,
Vorstandsmitglied der zum Flick-Konzern gehörenden
Mitteldeutschen Stahlwerke, wurden für die Mitarbeit gewonnen.
Zu guter Letzt durften Fritz Thyssen und Albert Vögler,
Vorstandsvorsitzender der Vereinigten Stahlwerke,
Präsidiumsmitglied des Reichsverbandes der Deutschen Industrie
und Aufsichtsratsvorsitzender der Rheinisch-Westfälischen
Elektrizitätswerke (RWE) sowie der Ruhrgas AG, in dieser Runde
nicht fehlen. Schließlich stieß
auch Gottfried Graf von Bismarck-Schönhausen zum
Keppler-Kreis, ein Enkel des »eisernen Kanzlers«.
Der bewirtschaftete Ländereien in der Uckermark, hatte aber in
den zwanziger Jahren leitende Funktionen bei der HAPAG und in der
Geschäftsstelle des RDI in Berlin bekleidet. Sternstunde der Wirtschaft Der
Keppler-Kreis kam am 20. Juni 1932 im Hotel Kaiserhof zu einem Treffen
mit Adolf Hitler zusammen. Einmal mehr redete der
»Führer« der NSDAP in kleinem Kreis
Klartext. Er wolle im von ihm angestrebten »Dritten
Reich« die Organisationen der Arbeiterbewegung
endgültig zerschlagen, die bürgerlichen Parteien
verbieten und mit großangelegten Rüstungen beginnen.
Wie sich Keppler im September 1946 in einer eidesstattlichen
Erklärung für das Nürnberger
Kriegsverbrechertribunal erinnerte, erhob niemand aus dem
»Keppler-Kreis« irgendwelche Einwände
gegen diese Zielvorstellungen. Im Gegenteil. Man drückte die
»Besorgnis aus, daß es ihm nicht gelingen werde,
diese hervorragenden Ideen in die Tat umzusetzen.«7 Der
Keppler-Kreis erreichte vor allem, daß wichtige
wirtschaftspolitische Erklärungen vorab Hitler vorgelegt
werden mußten und damit der Kontrolle Wilhelm Kepplers
unterlagen. Die Parteizentrale in München wurde derart
umorganisiert, daß leitende Mitarbeiter, deren
wirtschaftspolitische Ansichten nicht vollständig den
Vorstellungen der Großindustriellen entsprachen, kaltgestellt
wurden. Das betraf vor allem Gregor Strasser, aber auch Gottfried
Feder, den Autor des Parteiprogramms von 1920. Seit Dezember 1932
führte Walther Funk, der ehemalige Chefredakteur der Berliner
Börsen-Zeitung, hier die Geschäfte eines Leiters der
Kommission für Wirtschaftspolitik. Im
November 1932 schlug dann eine Sternstunde des Keppler-Kreises. Seine
Mitglieder sowie weitere führende Repräsentanten der
deutschen Industrie- und Bankenwelt unterzeichneten eine Eingabe an den
Reichspräsidenten von Hindenburg, in der die Übergabe
der Regierungsmacht an die faschistische Partei gefordert wurde. Nur
zwei Monate sollte es dauern, bis dieses Ziel schließlich
erreicht werden konnte. Henry A. Turner, einer der
professionellen Weißwäscher des deutschen
Großkapitals, schrieb einst: »Die launenhafte
Fortuna stand eindeutig auf Hitlers Seite.«8 Statt dessen
müßte es heißen: »Besonders
reaktionäre Kreise der deutschen Industrie- und Bankenwelt
bedienten sich Hitlers und der NSDAP, um ihre ökonomischen und
politischen Interessen endlich kompromißlos in die Tat
umsetzen zu können.« Es scheint an der Zeit, wenige
Monate vor dem 80. Jahrestag der Machtübergabe an die
deutschen Faschisten, an die Verantwortung derjenigen zu erinnern, ohne
die Hitler und seine Partei in Deutschland nie die Macht
hätten erringen und die Welt in den furchtbarsten aller Kriege
hätten stürzen können. Anmerkungen 1
Siehe Michael Wildt: Geschichte des Nationalsozialismus,
Göttingen 2008, S.9 2 Henry A. Turner:
Faschismus und Kapitalismus in Deutschland. Studien zum
Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und Wirtschaft,
Göttingen 1972, S.7 3 Berliner
Lokal-Anzeiger, Nr. 397, 23.8.1930: »Eine Erklärung
Kirdorfs« 4 Zitiert nach: Reinhard Neebe:
Großindustrie, Staat und NSDAP 1930-1933. Paul Silverberg und
der Reichsverband der Deutschen Industrie in der Krise der Weimarer
Republik, Göttingen 1981, S. 86 5 Zitiert
nach: Dirk Stegmann: Zum Verhältnis von
Großindustrie und Nationalsozialismus 1930-1933. Ein Beitrag
zur Vorgeschichte der sog. Machtergreifung, in: Archiv für
Sozialgeschichte, Band XIII, 1973, S. 450 6 Deutsche
Bergwerkszeitung, Nr. 105, 5.5.1929: »Drehpunkte der
deutschen Wirtschaftspolitik« 7 Zitiert
nach: Ulrike Hörster-Philipps: Wer war Hitler wirklich?
Großkapital und Faschismus 1918-1945. Dokumente,
Köln 1978, S.137 8 Henry A. Turner: Hitlers
Weg zur Macht. Der Januar 1933, München 1996, S.222 Dr. Reiner Zilkenat ist
Vorsitzender des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur
Geschichte der Arbeiterbewegung e.V. und Redakteur des Rundbriefs der
AG Rechtsextremismus/Antifaschismus der Partei Die Linke jungewelt.de vom 18.05.2012
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