Heartfield: "Millionen stehen hinter Hitler"

Rallye „Spurensuche Verbrechen der Wirtschaft 1933-1945“

Ein Projekt der VVN/BdA NRW

 

19.05.2012

Zwangsarbeit und Kriegsendphase

Von Dietrich Eichholtz erfuhren wir, wie das Unternehmertum noch Ende des Krieges zu einem furchtbaren Schlag gegen die Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter ausholte.

[„Krieg und Wirtschaft – Studien zur deutschen Wirtschafsgeschichte 1933-1945“ Hg. Dietrich Eichholtz, Metropol Berlin 1999]

Das ging dem voraus:

Im März 1945, traf eine große Rationenkürzung die Ostarbeiter am unteren Ende der Verpflegungsskala besonders schwer. Schon ab 5. Februar fielen sämtliche Zulage- und Zusatzkarten für ausländische Arbeiter fort. [Ebenda (Gewerbeaufsichtsamt Dortmund an Hoesch-Lager Verwaltung, 1.2.1945).] Nach Luftangriffen kam es anscheinend in den letzten Kriegsmonaten häufig vor, daß ausländische Arbeiter tagelang kein Essen bekamen. "Bereits an verschiedenen Tagen erhielten die Ausländer in unseren Betrieben wegen dieser Schwierigkeiten überhaupt kein Essen oder konnten dasselbe erst am späten Nachmittag einnehmen.“

In den letzten Monaten des Krieges „setzte ... eine sich fortwährend radikalisierende Verfolgungswelle gegenüber den Ausländern ein, von deren Dynamik immer stärker auch bis dahin weniger oder nicht beteiligte Deutsche ergriffen und als aktive Faktoren in den Terrorapparat mit einbezogen wurden.“ [Herbert, Fremdarbeiter, S. 319.] Damit brach - bekannt bis jetzt vor allem aus Quellen über Industriestädte im Westen Deutschlands - der latente Kriegszustand zwischen dem deutschen Unterdrückungsapparat und den ausländischen Arbeitern offen aus. Auch im Verhalten bisher wenig hervorgetretener Kreise der deutschen Bevölkerung vollzogen sich dabei schockierende Veränderungen: „Es waren nicht mehr allein die Polizisten oder Gestapo-Leute, sondern auch Telefonisten oder Schlosser, die in Eigenverantwortung Macht ausübten und zu Herren über Leben und Tod werden konnten.“ Ein Verdacht auf Diebstahl, Plünderung, Marodieren, Sabotage oder Desertion von der Arbeit genügte, um das Schicksal der betroffenen Ausländer zu besiegeln. „Untersuchungen, Zeugenvernehmen oder ähnliches, wie sich bis dahin jedenfalls offiziell auch gegenüber ausländischen Arbeitern üblich gewesen waren, unterblieben.“ Je näher dem Kriegsende, desto deutlicher wurden die „zunehmende Brutalisierung in der deutschen Öffentlichkeit“ und Tendenzen brutaler Selbstjustiz an Ausländern, „die mit der Abwehr und Verhinderung von Plünderungen immer weniger zu tun hatten. Sie trugen die Züge eines Rachefeldzuges, an dem nun nicht mehr allein die Sicherheitsbehörden, sondern auch Teile der Bevölkerung teilnahmen.“ [Ebenda, S. 330 f.]

Dies war der schändliche Eklat der Wirkung der unfreien Ausländerarbeit auf die unfreien deutschen Arbeiter. In großer Zahl ließen sie sich, je länger, desto mehr, als Antreiber, Prügelhelden und nun schließlich auch als Mordgehilfen und Mörder gegen Ausländer, Juden und andere Verfolgte mißbrauchen, „statt gerade an deren Schicksal zu sehen, wie tief sie selber heruntergekommen waren“. [Kuczynski, S. 3 20.]

Der offensichtliche Zusammenbruch aller deutschen Siegeshoffnungen, das eigene Elend unter dem Bombenhagel und die Angst vor der Zukunft erzeugten den hysterischen Haß, der sich gegen die Schwächsten, Wehrlosesten entlud. Es bleibt allerdings festzuhalten, daß es die herrschenden Kreise des Regimes waren, voran die zentralen Terrororgane und der Propagandaapparat, die die pogromartige Welle der Gewalt auslösten. Das Reichssicherheitshauptamt (RSHA), die Mordzentrale des Nazireiches, stachelte den „Volkszorn“ auf und gab seinen Dienststellen freie Hand für die Mordorgie, die in der berüchtigten „Karwoche“ ihren Höhepunkt fand. [Siehe Herbert, Fremdarbeiter, S. 336 ff.]

Schon Anfang November 1944 „gestattete das RSHA den einzelnen Gestapostellen per Erlaß, selbständig Exekutionen ausländischer Arbeiter - zunächst nur von Ostarbeitern und Polen, später auch von Westarbeitern anzuordnen und durchführen zu lassen. Darüberhinaus wurde in dem Erlaß vom November festgelegt, bei 'schwerwiegenden Terror- und Sabotagehandlungen' ausländischer Arbeiter seien auch ,Sühnemaßnahmen' durchzuführen gegen ,fremdvölkische Personen, die zwar als Täter nicht in Betracht kommen, jedoch dem Lebenskreis des Täters angehören', was nichts anderes als die Genehmigung darstellte, bei ausländischen Arbeitern Geiseln zu nehmen und diese umzubringen.“ [Ebenda, S. 329.]

Auslösend für die Mordorgien des März und April 1945 hat anscheinend der Befehl Kaltenbrunners vom 6. Februar 1945 an alle Polizeidienststellen (Sicherheitspolizei und SD, Kriminalpolizei, Gestapo) gewirkt, der als Orientierung in der zunehmend chaotischen Situation in den zerbombten Städten, im Verkehrs- und Nachrichtenwesen gedacht war: „In Ausrichtung auf BdS und Inspekteur (der Sipo und des SD - D. E.) haben Dienststellenleiter in eigener Zuständigkeit und Verantwortung zu entscheiden. ... Über Sonderbehandlungen von Ostarbeitern bei todeswürdigen Verbrechen (weitauszulegen) entscheidet Dienststellenleiter. Bei anderen Ausländern und Reichsdeutschen mit BdS, Inspekteur bzw. HSSPF abstimmen. ... Erwarte von allen Dienststellen höchste Einsatzbereitschaft, Verantwortung, kräftiges Zupacken, kein Zaudern. Jeden Defätismus in eigenen Reihen rücksichtslos mit schärfsten Maßnahmen ausmerzen.“ [Fernschreiben Kaltenbrunner, 6. 2.1945; zit. bei Eichholtz, Kriegswirtschaft, Bd. III, S.653.]

Weiter berichtet Dietrich Eichholtz: Ein Urteil besonderer Art - für unzählige Zwangsarbeiter ein Todesurteil - fällte in den letzten Kriegsmonaten das deutsche Großkapital. Schon Anfang Februar 1945 meldeten die deutschen Industriellen, vertreten durch RGI und Reichswirtschaftskammer, bei den Behörden eine ihrer schwersten Sorgen im Hinblick auf das nahende Kriegsende an: Wie konnte man die ausländischen Arbeitskräfte, wie vor allem die KZ-Häftlinge und Kriegsgefangenen rechtzeitig loswerden? Am 8. Februar formulierte die RGI in einer geheimen Besprechungsunterlage dieses Problem in aller Schärfe: ,,1) Die Betriebe müssen das Recht erhalten, z.B. die KZ-Häftlinge, Juden und Kriegs¬gefangenen an die zuständigen Dienststellen (Stalag, Gestapo, Arbeitsamt) zurückzugeben. 2) Die Betriebe sollen das Recht haben, Ausländer, die sie nicht mehr für die Produktion benötigen, dem Arbeitsamt zurückzugeben. Soweit hierbei geschlossene Lager dem Arbeitsamt zur Verfügung gestellt werden, hat dieses das gesamte Lager zu übernehmen und kann die dort untergebrachten Ausländer für öffentliche Arbeiten einsetzen.“ [Besprechungsunterlage „Umstellung der Betriebe auf die veränderte Arbeitslage“, vom 8. 2. 1945; zit. ebenda, S. 650.] Die Reichswirtschaftskammer äußerte sich wenige Tage später in abgestimmter Weise ganz ähnlich: „Bei der Abgabe von Arbeitskräften aus der Wirtschaft sind grundsätzlich zunächst freizustellen 1) KZ-Häftlinge, Juden und Kriegsgefangene, 2) Ausländer, soweit die Genannten nicht zur Aufrechterhaltung der Fertigung unentbehrlich sind.“ [Aktenvermerk „Entwurf! Umstellung der Betriebe auf die veränderte Arbeitslage“ vom 13. 2. 1945; zit. Ebenda.]

Rüstungsminister Speer besprach das gleiche Problem am 7. und 8. März mit den Eisen- und Stahlindustriellen im nordrhein-westfälischen Industriebetrieb. Die Industriellen verlangten den Abtransport der Kriegsgefangenen und zivilen Ausländer, soweit eine Produktion „wegen der Frontnähe" nicht mehr möglich sei; man müsse gegebenenfalls einen entsprechenden Befehl über die örtlichen Parteidienststellen bzw. beim Reichsverteidigungskommissar/Gauleiter erwirken. „Unzuverlässige Ausländer sind möglichst frühzeitig vorweg abzutransportieren. Anzeige an örtliche Vertretung der Stapoleitstelle.“ [„Tagesordnung Sitzung engerer Beirat Nordwest“ (d.i. die Bezirksgruppe Nordwest der Wirtschaftsgruppe Eisen schaffende Industrie) vom 10. 3. 1945; zit. ebenda, S. 651.] Die Kenntnis der inzwischen vom RSHA gegebenen Orientierung kann bei den Industriellen nicht vorausgesetzt muß aber vermutet werden.

Angesichts eines solchen Vorgehens kann die seit den Nürnberger Nachkriegsprozessen so häufig strapazierte Behauptung, die Arbeit für deutsche Rüstungsunternehmen habe die Zwangsarbeiter, besonders die Juden und KZ-Häftlinge, vor dem schlimmsten bewahrt, nicht aufrechterhalten werden. Es mußte den genannten Institutionen und Industriellen klar sein, daß die „Rückgabe“ von Juden, KZ-Häftlingen und „unzuverlässigen Ausländern“ an SS und Gestapo unter den damaligen Umständen einem Todesurteil gleichkam. Ein solches Schicksal traf tatsächlich bald darauf ungezählte Tausende, spätestens auf den berüchtigten „Todesmärschen“.

Über siebeneinhalb Millionen Zwangsarbeiter konnten allerdings weder aus den Betrieben gejagt und „zurückgegeben“ noch abtransportiert werden. Wohin auch - wo doch die Front im Osten und Westen längst auf deutschem Boden stand? Wie auch - wo die Verkehrssituation in Restdeutschland sich in vollständigem Zusammenbruch befand? So erlebten die meisten Zwangsarbeiter ihre Befreiung in den Betrieben und Betriebslagern oder, wenn sie untergetaucht waren, in den Ruinen der Städte, meist unter den Bedingungen der Todesangst, des Hungers und der lebensbedrohenden Vernachlässigung.

Die Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft und in kleineren Orten erlebten das Kriegsende dagegen in der Regel in erträglicheren Verhältnissen. Viele Ausländer scheinen ferner in den letzten Kriegsmonaten und -wochen aus dem Chaos der Städte geflohen zu sein, und viele konnten auf diese Weise ihr Leben retten. Solch ein wochenlanges Verschwinden und Untertauchen setzte aber die Hilfe und Solidarität von Deutschen voraus. Diese gab es, und es bleibt ein wichtiges, dabei eines der am wenigsten aufgehellten und wohl auch kompliziertesten Probleme der Forschung, dieser Erscheinung nachzuspüren.