04.10.2011
Auch jetzt gilt: Einen Schlussstrich darf
es nicht geben
Für eine neue
Initiative und eine
zusätzliche finanzielle Anstrengung von Wirtschaft, Staat und
Gesellschaft
zugunsten der Zwangsarbeiter
Ende Mai 2011 war es zehn Jahre her, da die
Entschädigungsfrage
für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eine Regelung fand.
Dieser damals
heftig umstrittene Vorgang ist heute schon wieder fast vergessen. Die
Verbrechen
der deutschen Wirtschaft, verübt an ca. 15 Millionen
Verschleppten und
Versklavten, wurden damals kaum, heute fast gar nicht thematisiert
–ja sie
wurden wieder tabuisiert. Wer im Zusammenhang mit der Erinnerungsarbeit
auch
Kapitalismuskritik übt, die Schuld der ökonomischen
Eliten thematisiert, sieht
sich schnell als Extremist abgestempelt, kann womöglich in
Verfassungsschutzberichten auftauchen. Dass vor zehn Jahren sich nur
zwei
Prozent der Wirtschaft an den Entschädigungsleistungen, die
viel zu gering
waren, beteiligte, das belegt bis heute jene Ängstlichkeit in
„der Wirtschaft“,
die sich in der Furcht, das leidige Thema könnte wieder
hochgespült werden und
neue – berechtigte! - Forderungen auslösen,
ausdrückt. Jetzt, um den 70.
Jahrestag des Überfalls auf die UdSSR herum, wird zudem an die
ausgebliebene
Entschädigung für Kriegsgefangene erinnert.
Somit war es sensationell, was sich in wenigen Medien am
Montag,
28. Juni 2010 widerspiegelte: Unter der Überschrift
„Chef des Gesamtverbandes
der Deutschen Versicherungswirtschaft ruft zu erneuter Initiative
für
überlebende NS-Verfolgte auf“ berichtete die
Süddeutsche Zeitung über eine
bemerkenswerte Rede, die verdient festgehalten zu werden, damit sie
nicht ohne
Konsequenz bleibt.
Über die Rede des Vertreters der
Versicherungswirtschaft, ferner
über einen Dankesbrief von Ulla Jelpke MdB an die VVN-BdA und
über eine Bilanz
der Entwicklung, gezogen von Prof. Thomas Kuczynski soll hier
informiert
werden.
Auch jetzt gilt: Einen
Schlussstrich darf es
nicht geben
Für eine neue
Initiative und eine zusätzliche
finanzielle Anstrengung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft
zugunsten der
Zwangsarbeiter
Ende Mai 2011 war es zehn Jahre her, da die
Entschädigungsfrage für
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eine Regelung fand. Dieser
damals heftig
umstrittene Vorgang ist heute schon wieder fast vergessen. Die
Verbrechen der
deutschen Wirtschaft, verübt an ca. 15 Millionen Verschleppten
und Versklavten,
wurden damals kaum, heute fast gar nicht thematisiert -ja sie wurden
wieder
tabuisiert. Wer im Zusammenhang mit der Erinnerungsarbeit auch
Kapitalismuskritik übt, die Schuld der ökonomischen
Eliten thematisiert, sieht
sich schnell als Extremist abgestempelt, kann womöglich in
Verfassungsschutzberichten auftauchen. Dass vor zehn Jahren sich nur
zwei
Prozent der Wirtschaft an den Entschädigungsleistungen, die
viel zu gering
waren, beteiligte, das belegt bis heute jene Ängstlichkeit in
"der
Wirtschaft", die sich in der Furcht, das leidige Thema könnte
wieder
hochgespült werden und neue - berechtigte! - Forderungen
auslösen, ausdrückt.
Jetzt, um den 70. Jahrestag des Überfalls auf die UdSSR herum,
wird zudem an
die ausgebliebene Entschädigung für Kriegsgefangene
erinnert.
Somit war es sensationell, was sich in wenigen Medien am
Montag, 28. Juni
2010 widerspiegelte: Unter der Überschrift "Chef des
Gesamtverbandes der
Deutschen Versicherungswirtschaft ruft zu erneuter Initiative
für überlebende
NS-Verfolgte auf" berichtete die Süddeutsche Zeitung
über eine
bemerkenswerte Rede, die verdient festgehalten zu werden, damit sie
nicht
konsequenzlos bleibt.
Der Bericht über die Rede. "Der stellvertretende
Vorsitzende des
Kuratoriums der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", Dr.
Jörg
Freiherr Frank von Fürstenwerth, der zugleich Vorsitzender der
Hauptgeschäftsführung und
geschäftsführendes Präsidiumsmitglied des
Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. ist, hat
anlässlich
des Festaktes zum zehnjährigen bestehen der Stiftung
"Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft" eine viel beachtete Rede gehalten. Dr. von
Fürstenwerth führte u.a. aus:
"Meine große Sorge ist aber, dass all das Erreichte
gefährdet ist, wenn
es nicht gelingt, in gemeinsamer Verantwortung von Wirtschaft,
Gesellschaft und
Politik den letzten Überlebenden der Shoah, den letzten
Überlebenden von
KZ-Haft und anderen unmenschlichen Verbrechen es zu
ermöglichen, ihre letzten
Lebensjahre in Würde zu verbringen. Und wir müssen
dies schnell tun. Das
Zeitfenster, ein letztes Mal die Not der Überlebenden zu
lindern, ihnen ein
letztes Mal ein kleines Stück mehr an Gerechtigkeit zukommen
zu lassen, ist
sehr, sehr eng. (…) Warum sollte uns angesichts der
aktuellen Not vieler Opfer
nicht noch einmal solch ein gemeinsames Einstehen für unsere
historische
Verantwortung gelingen?
Wir brauchen eine neue Initiative, eine zusätzliche
finanzielle Anstrengung
von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, ein solches Projekt zu stemmen;
auf
freiwilliger Basis, aufgrund unserer inneren Überzeugung,
Verantwortung zu
übernehmen. Die Stiftung kann dies aus den ihr verbliebenen
Mitteln nicht
leisten, aber sie könnte, aufbauend auf ihren jetzigen
Programmen, später bei
der Umsetzung helfen."
Dazu wurde von einem Stiftungsmitglied angemerkt: "Der
Bundesverband
Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V., dem auch
die VVN-BdA
angehört, unterstützt Herrn Dr. von
Fürstenwerth nachdrücklich in seinen
Bemühungen, den Überlebenden des Nazi-Terrors ein Alt
werden in Würde zu
ermöglichen und wird alles in seiner Macht stehende
dafür tun, dass diese Initiative
schnell erfolgreich ist."
Noch ein Blick
zurück
Ulrich Sander gehörte vor über zehn Jahren
zur Verhandlungs- und
Aktionsgruppegruppe der Opferverbände, als es um die
Entschädigungsfrage ging.
Ulla Jelpke MdB vom Stiftungskuratorium schrieb ihm damals
(30. Mai 2001):
"Es ist mir in diesem Augenblick ein
persönliches Bedürfnis, mich
bei allen Freundinnen und Freunden, bei allen Mitkämpferinnen
und Mitkämpfern
zu bedanken, ohne deren langen und beharrlichen Einsatz wir nie so weit
gekommen wären. Ich nenne hier - stellvertretend für
viele - Alfred Hausser und
seine MitstreiterInnen in der Interessengemeinschaft ehemaliger
Zwangsarbeiter
unter dem NS-Regime, Kurt Goldstein vom Auschwitz-Komitee, Ulrich
Sander und
andere in der VVN, Hans-Jochen Vogel und den Verein gegen das
Vergessen, Lothar
Evers, Andreas Plake und die Beratungsstelle für NS-Verfolgte
in Köln, Dr. Karl
Brozik von der Jewish Claims Conference, Bartosz Jalowiecki von der
polnischen
Partnerstiftung, Jiri Sitler aus der Tschechischen Republik.
Manche, die mir wichtig waren und ohne deren
mühevollen, langen Kampf wir
nie so weit gekommen wären, sind inzwischen verstorben, zum
Beispiel Hans
Frankenthal, der Auschwitz überlebte, aber wenige Monate vor
Inkrafttreten des
Entschädigungsgesetzes verstarb. 60.000 Überlebende
sind nach Auskunft der
Opferorganisationen während des monatelangen Gezerres um die
Rechtssicherheit
für die Wirtschaft seit Verabschiedung des
Entschädigungsgesetzes verstorben.
200 weitere sterben jeden Tag.
Ich bedanke mich auch bei den vielen Initiativen, zum
Beispiel dem
Bündnis, das die Protestaktionen vor dem Haus der deutschen
Wirtschaft in
Berlin in den letzten Wochen organisiert hat, bei HistorikerInnen,
Antifa-Gruppen, Gewerkschaften und anderen, die geholfen haben, die
Erinnerung
an die Täter und ihre Opfer wieder zu wecken und wach zu
halten.
Ihnen allen möchte ich danken. Für
ihre Hilfe, für ihre kritischen
Anregungen, für ihre Anregungen und Forderungen auch an meine
parlamentarische
Arbeit. Wir haben jetzt gemeinsam ein erstes Ziel erreicht. Die
Zahlungen
können beginnen.
Vieles bleibt jetzt noch zu tun. Alles Geld, auch die
Zinsen der
Wirtschaft, gehören den Opfern. Die Antragsfristen
für die Opfer müssen
verlängert werden, die Hilfe für sie bei der
Nachweisbeschaffung organisiert
werden. Wenn sie keine Belege finden, muß geklärt
werden, welche anderen
Möglichkeiten der Glaubhaftmachung für ihr Leid sie
haben.
Schon jetzt haben sich mehr Opfer gemeldet, als bei
Verabschiedung des
Gesetzes erwartet wurde. Das wirft neue Probleme auf. Für die
Überlebenden im
sogenannten "Rest der Welt", also nichtjüdische Opfer
außerhalb
Osteuropas, reicht mit großer Wahrscheinlichkeit der zur
Verfügung gestellte
Beitrag nicht aus. Dann muß die Entschädigungssumme
erhöht werden.
Trotzdem werden am Ende viele Überlebende
vermutlich überhaupt kein Geld
erhalten. Weil sie keine Belege finden und auch keine Zeugen mehr da
sind. Weil
sie nicht deportiert wurden, das Gesetz aber Deportation verlangt,
damit
überhaupt eine Zahlung erfolgt. Oder weil sie irgendwo in dem
bürokratischen
Prozeß der Antragstellung, Nachweisbeschaffung usw. nicht
mehr weiter kommen.
Ihnen allen schulden wir es, weiter zu
kämpfen. Einen Schlußstrich darf
es nicht geben. Weder finanziell, noch moralisch, noch politisch.
Gegen jeden Schlussstrich
wendet sich auch -
damals wir heute - Prof. Thomas Kuczynski.
Er berichtet in einer Rede Mitte Mai über das Ringen
vor zehn Jahren und
über die Aufgaben die blieben.
Die Rede sei hier teilweise dokumentiert.
Junge Welt, 12.05.2011 /
Analyse / Seite 10
Ablaß zu
Ausverkaufspreisen
Entschädigungsansprüche
für Zwangsarbeit im
"Dritten Reich".
Aus der Rede auf der
Festveranstaltung "Zehn
Jahre Gedenkstätte Ahrensbök" am 8. Mai 2011.
Von Thomas Kuczynski
… Wir dokumentieren die Rede, die der
Wirtschaftswissenschaftler Prof.
Thomas Kuczynski dort zum Thema Zwangsarbeiterentschädigung
gehalten hat, deren
juristische Regelung sich in diesen Tagen ebenfalls zum zehnten Mal
jährt.
Vor zehn Jahren auch wurde
ein juristischer
Schlußstrich unter das Thema
Zwangsarbeit gezogen und damit die erregte Debatte zu den
Entschädigungszahlungen an die im Zweiten Weltkrieg nach
Deutschland
verschleppten Zwangsarbeitskräfte beendet. An dieser Debatte
war ich insofern
beteiligt, als ich damals in einem Gutachten nachgewiesen hatte, was
den
ehemaligen Zwangsarbeitskräften vorenthalten worden war und
was ihnen
dementsprechend als Entschädigung zustünde.
Diese Beteiligung war wohl auch Ursache dafür,
daß ich die ehrenvolle
Anfrage erhalten hatte, ob ich am heutigen Tage einen Festvortrag zum
Thema
"Ablaß zu Ausverkaufspreisen.
Entschädigungsansprüche für Zwangsarbeit im
‚Dritten Reich'" halten könne. Für diese
Einladung und für die
Gelegenheit, zu dem von den Veranstaltern formulierten Vortragsthema
sprechen
zu dürfen, möchte ich Ihnen sehr herzlich danken.
In dem Gutachten hatte ich nachgewiesen, daß den
ehemaligen
Zwangsarbeitskräften Löhne in Höhe von
über sechzehn Milliarden Reichsmark
vorenthalten worden waren, also umgerechnet rund 180 Milliarden D-Mark
bzw.
heutzutage 90 Milliarden Euro. Ich kann diesen Nachweis hier nicht in
allen
Einzelheiten referieren. Jedoch können Sie das und manches zu
den Hintergründen
der Verhandlungen in einem kleinen Büchlein nachlesen (Thomas
Kuczynski,
Brosamen vom Herrentisch. Hintergründe der
Entschädigungszahlungen an die im
Zweiten Weltkrieg nach Deutschland).
Der Ausgangspunkt des Gutachtens war im Grunde der gleiche wie
der von Hans
Frankenthal, der als KZ-Häftling den Aufbau des Buna-Werkes
der IG Farben in
Auschwitz überlebt hatte. Er hatte als Grundforderung bei
allen
Entschädigungsverhandlungen in Sachen Zwangsarbeit formuliert:
"Den
ehemaligen Sklavenarbeitern steht zumindest der bis heute nicht
ausbezahlte
Arbeitslohn zu." Zumindest, denn bei einer so formulierten Forderung
wird
von all dem abgesehen, was nach bürgerlichem Recht als
Schmerzensgeld
bezeichnet wird.
Die von Frankenthal formulierte Mindestforderung ist
einleuchtend und ihre
Basis so einfach, daß sie all jenen, die Löhne oder
Gehälter empfangen bzw. zahlen
müssen, verständlich sein sollte: Was die
Zwangsarbeitskräfte damals zu wenig
ausbezahlt bekommen haben, muß ihnen jetzt nachgezahlt
werden. So hatte es auch
der Jurist Burkhard Heß 1996 formuliert: "[…]
maßgebend ist der Lohn, den
ein deutscher Arbeiter an der Stelle des ausländischen
Zwangsarbeiters verdient
hätte."
Was ich damals nicht wußte, ist, daß diese
Forderung schon fünfzig Jahre
früher erhoben worden war, und zwar von einem Mann, der damals
gar nicht so
weit weg von hier wohnte, nämlich in Lübeck, also in
Schleswig-Holstein.
Norbert Wollheim, damals Vorsitzender des Verbandes der
Jüdischen Gemeinden
Nordwestdeutschlands, hatte als KZ-Häftling Nr. 107984 fast
zwei Jahre als
Schweißer für die IG Farben in Auschwitz-Monowitz
gearbeitet und war daher der
Meinung, daß die IG ihm den damals nicht gezahlten Lohn
schuldig geblieben war,
er also zu ihren Gläubigern zählte. Der Streitwert im
nach dem Kläger benannten
Wollheim-Prozeß wurde auf 10000 D-Mark angesetzt, und diese
Summe hatte einen
sehr realen Bezug. Wollheim hatte in dem Schriftsatz erstens eine
Haftzeit von
22 Monaten und zweitens eine Wochenarbeitszeit von 72 Stunden (also 312
Stunden
je Monat) genannt, sich drittens auf den 1950 für gelernte
Schweißer gezahlten
Stundenlohn (1,40 DM) bezogen und viertens nur für die Zeit ab
1. Juli 1951
Verzugszinsen verlangt. Die Multiplikation der Ausgangsdaten (22
Monate×312
Stunden pro Monat×1,40 DM pro Stunde) ergibt eine ausstehende
Lohnsumme von
exakt 9609,60 DM, also rund 10000 DM. Ergo hatte Wollheim genau
dieselbe
Rechnung aufgemacht wie knapp fünfzig Jahre später
sein Mithäftling
Frankenthal: Den ehemaligen Sklavenarbeitern steht zumindest der bis
heute
nicht ausbezahlte Arbeitslohn zu.
Dabei war er sich über die seiner Notiz innewohnende
Sprengkraft durchaus im
klaren, denn er schloß sie mit dem Bemerken ab: "Sollte es
gelingen, ein
obsiegendes Urteil im Sinne dieser [seiner] Ansprüche gegen
die I.G. Farben zu
erlangen, so dürfte damit ein wichtiges Präjudiz
hinsichtlich aller Ansprüche
geschaffen sein, die unterbezahlte Häftlinge gegen ihre
früheren Arbeitgeber
geltend machen können."
Wie recht Wollheim damit hatte, zeigt die Interpretation des
in erster
Instanz vom Kläger gewonnenen Prozesses durch die auf Seiten
der Industrie
argumentierende Presse. Die Wirtschaftszeitung/Deutsche Zeitung hatte
nämlich
am 11. Juli 1953 unter dem Titel "Wer soll wiedergutmachen? Anmerkungen
zu
einem Frankfurter Fehlurteil" die Politiker gewarnt: Wenn das
Wollheim-Urteil Rechtskraft erhielte und zum Präzedenzfall
würde, dann müßte
man es auf "vier bis fünf Millionen Kriegsgefangene,
Internierte,
KZ-Häftlinge und andere Zwangsarbeiter" hochrechnen, woraus
sich ein
Schadensersatzvolumen von 60 bis 80 Milliarden Mark ergäbe.
Ohne diese Rechnung
im einzelnen zu analysieren, ist klar: Die deutsche Industrie
wußte insgesamt
ziemlich genau, welche Beträge sie schuldig geblieben war, um
welche Beträge es
bei künftigen Entschädigungsverhandlungen gehen
würde oder zumindest gehen
müßte.
Und wieder offenbart sich eine verblüffende Parallele
zu den 1999 (nicht)
verhandelten Summen: Wird bei dem 1953 in der Wirtschaftspresse
befürchteten
Schadensersatzvolumen die seither stattgefundene Geldentwertung
berücksichtigt,
so wäre 1999 um über 200 Milliarden D-Mark zu
verhandeln gewesen. Insofern ist
es schon bemerkenswert, wenn der 1999 unmittelbar beteiligte
US-Staatssekretär
Eizenstat die in meinem Gutachten genannte Summe als "nicht
nachvollziehbare Forderung von 180 Milliarden DM" bezeichnet hat, ein
Mann
übrigens, der zuvor als stellvertretender Finanzminister mit
solchen Summen
tagtäglich Umgang gehabt hatte.
Vor Verhandlungsbeginn (1998) war von den Opfern als Minimum
des Anstands
eine Zahlung von 10000 D-Mark pro Kopf bezeichnet worden. Inzwischen
ist
weitgehend anerkannt, daß die Zahl der während des
Krieges auf dem Territorium
des "Großdeutschen Reichs" zur Zwangsarbeit verpflichteten
Menschen
etwa 15 Millionen betrug. Die sich daraus ergebende
Gesamtentschädigung wäre
also mit 150 Milliarden nicht so sehr verschieden gewesen von den
berechneten
180. Von der deutschen Wirtschaft und der deutschen Regierung gezahlt
wurden
aber schließlich nur etwas mehr als acht Milliarden. Warum?
Ich möchte vor allem zu sechs Aspekten etwas sagen.
Zahlungsunwillige Industrie
Erstens hat niemand versucht, über den Einzelfall
hinausgehend, die in den
Akten vorhandenen Daten über Beschäftigte und
Löhne unter Berücksichtigung der
Steuern, Abgaben und sonstigen Abzüge analytisch auszuwerten.
Aber für die
Firma Daimler-Benz beispielsweise waren all diese Daten seit
Jahrzehnten
bekannt. Werden sie buchhalterisch zusammengestellt und mit einem
entsprechenden Inflationssatz multipliziert, so ergibt sich,
daß der Konzern im
Jahre 1999 für eine reguläre Entschädigung
knapp 16000 D-Mark pro
Zwangsarbeitskraft hätte zahlen müssen, insgesamt
über 1,2 Milliarden D-Mark.
Wer meint, diese Zahlung hätte den Nachfolgekonzern in den
Bankrott getrieben
oder zumindest Arbeitsplätze gefährdet, möge
sich erinnern, daß er im Jahre
1998 einen Gesamtgewinn von über zehn Milliarden DM erzielt
hatte. Der Konzern
hätte also für eine angemessene
Entschädigung weniger als sieben Wochen Gewinn
verwenden müssen. Das hätte ihn nicht in den Bankrott
getrieben und auch keinen
Arbeitsplatz gefährdet, es hätte die Dividende der
Aktionäre ein wenig
geschmälert und nicht einmal die nächste
Großfusion verzögert. Mehr wäre nicht
passiert.
Im übrigen ist natürlich - damals wie heute
- festzustellen: Wenn an der
Jahreswende 1999/2000 im Kampf um die Übernahme eines (!)
Konzerns Beträge von
schließlich über 400 Milliarden Mark gezahlt worden
sind, dann kann gar keine
Rede davon sein, daß nicht genügend Geld vorhanden
war, um 180 Milliarden an
Entschädigungen zu zahlen. Eine solche gemeinsame (!) Zahlung
hätte die Firmen,
wie am Beispiel Daimler-Benz gesehen, keineswegs in den Ruin getrieben.
Gewiß,
die 400 Milliarden für Mannesmann wurden für ein
hochprofitables Unternehmen
gezahlt, an dem einige Millionen Besitzerinnen und Besitzer von
Mobiltelefonen
hingen. Die Entschädigungen wären an einige Millionen
ehemaliger
Zwangsarbeitskräfte gegangen, die zwar während des
Krieges sehr profitabel
waren, nicht mehr jedoch zu Zeiten der Verhandlungen. Das aber war der
einzige
Unterschied, und insofern hätten die Erben bzw.
Rechtsnachfolger der
Zwangsarbeitgeber nicht behaupten dürfen, sie könnten
nicht zahlen, sondern
ihre Behauptung hätte wahrheitsgemäß lauten
müssen: Wir wollen nicht zahlen.
Alles andere war Heuchelei.
Die Toten zählen
nicht
Zweitens sind auf keiner Seite die Toten
berücksichtigt worden. Aber die
Entschädigungsansprüche waren aus den
wirtschaftlichen Resultaten der
geleisteten Zwangsarbeit abzuleiten, und zwar unabhängig
davon, ob die
Anspruchsberechtigten noch am Leben sind oder nicht. Ein anderes
Herangehen
hätte die Zahlungspflichtigen aus der Verantwortung gerade
denen gegenüber
entlassen, die nicht zuletzt wegen der ihnen während ihrer
Zwangsarbeitszeit in
Deutschland zugefügten physischen und psychischen
Schäden inzwischen verstorben
oder gar schon während dieser Zeit umgekommen waren. Ein
anderes Herangehen
hätte, um es ganz deutlich zu formulieren, die
Zahlungspflichtigen nachträglich
dafür belohnt, daß auf dem Wege der "Vernichtung
durch Arbeit" viele
der Zwangsarbeitskräfte mittelbar und unmittelbar umgebracht
worden bzw. an den
späteren Folgen schon verstorben sind. Im Gutachten selbst
wurde zu einem
möglichen Zahlungsmodus vermerkt: Ein sehr großer
Prozentsatz der
Anspruchsberechtigten ist zwischenzeitlich verstorben. Das
ändert aber nichts
an der Tatsache, daß durch Zwangsarbeit "erwirtschaftete"
Einnahmen
und Gewinne prinzipiell als Hehlergewinne zu betrachten und
zurückzuzahlen
sind. Unseres Erachtens ist diese Seite des Problems nur in der Weise
zu lösen,
daß die gesamte Entschädigungssumme der von der
Bundesregierung vorgeschlagenen
Stiftungsinitiative deutscher Unternehmen: Erinnerung, Verantwortung
und
Zukunft zur Verfügung gestellt wird. Aus dem Fonds Erinnerung
und Verantwortung
werden die unmittelbar Anspruchsberechtigten entschädigt.
Dagegen sollten in
die Stiftung Erinnerung und Zukunft nur jene Teile der
Entschädigungssumme
eingebracht werden, die den verstorbenen Anspruchsberechtigten nicht
mehr
ausgezahlt werden können. Durch ein solches Vorgehen bliebe
überdies der
Vorrang des Entschädigungsfonds gegenüber der
Stiftung gewahrt; auch wird damit
verhindert, daß die Stiftung als "moralische Geste" den
Betroffenen
gegenüber erscheint, denn sie basiert in der Tat nur auf den
nicht mehr direkt
auszahlbaren Entschädigungsbeträgen.
Aber die ansonsten auf keiner Gedenkveranstaltung vergessenen
Toten, sie
spielten bei keiner der miteinander verhandelnden Parteien eine Rolle.
Und da
von den ehemaligen Zwangsarbeitskräften zum Zeitpunkt der
Verhandlungen nur
noch jede fünfte am Leben war, reduzierte sich der nicht
verhandelte Betrag um
achtzig Prozent.
Eine Infamie
Drittens erhielten die außerhalb der
Industrie"eingesetzten"
Zwangsarbeitskräfte nur ausnahmsweise eine
Entschädigung. Ich nenne als
Fallbeispiel die polnischen Zwangsarbeitskräfte in der
deutschen
Landwirtschaft, denn zu dieser Fallgruppe hatte sich der Vertreter der
Bundesregierung in besonders infamer Weise geäußert:
Nach Auffassung des Grafen
Lambsdorff sei es seit Jahrzehnten üblich gewesen, polnische
Wanderarbeiter in
der ostdeutschen Landwirtschaft zu beschäftigen, so
daß von Zwang gar keine
Rede sein könne. Das Merkwürdige ist nur:
Während 1938 keine 70000 Polen in der
deutschen Wirtschaft arbeiteten, darunter auch im Bergbau, in der
Bauwirtschaft
und anderen Wirtschaftsbereichen, waren Ende September 1940 allein in
der
Landwirtschaft rund 470000 "Zivilpolen aus dem Generalgouvernement und
den
neuen Ostgebieten" eingesetzt. In den Folgejahren stieg die Zahl von
über
650000 auf knapp 1,2 Millionen. Diese etwa Verzwanzigfachung hielt der
Graf für
etwas "Übliches", ihre Gründe schienen ihm und seinen
Beratern -
darunter ehemals honorige und heute beamtete Historiker - nicht
hinterfragenswert.
Dasselbe traf auf die halbe Million Mädchen und
Frauen zu, die nach einem
Wort der unvergessenen Annekatrein Mendel Zwangsarbeit im Kinderzimmer
zu
leisten hatten, und auf viele andere Bereiche von Wirtschaft und
Gesellschaft.
Da die Hälfte der ehemaligen Zwangsarbeitskräfte
damals außerhalb der
Industrie"eingesetzt" war, reduzierte sich der nicht verhandelte
Betrag um weitere fünfzig Prozent.
Viertens blieben die völkerrechtswidrig in der
Rüstungsindustrie
"eingesetzten" Kriegsgefangenen von jeglicher Entschädigung
ausgeschlossen.
Fünftens ließen sich die Vertreter der
Opfer auseinanderdividieren. Einer
Studie über Zwangsarbeit in Baden ist zu entnehmen,
daß die Einführung
der"Leistungsernährung" für indische Gefangene bei
der Emmendinger
Firma Ramie daran scheiterte, daß die Männer eine
Brotzulage mit der Bemerkung
ablehnten: alle oder keiner. Das geschah allerdings während
des Krieges, als
Solidarität das wichtigste Überlebensmittel war,
weitaus wichtiger als Brot und
andere Lebensmittel. In den Verhandlungen erhielten die deutschen
Vertreter von
Staat und Wirtschaft nicht diese ihnen gebührende Antwort.
Statt dessen
stritten die auf der Opferseite Beteiligten über Abstufungen
zwischen
verschiedenen Kategorien und beteiligten sich auf diese Weise an einem
unwürdigen Kuhhandel. Es waren keine Helden, die am
Verhandlungstisch saßen,
sondern kühl rechnende Juristen und Politiker. Ein
Überlebender hat die
Entschädigungen, die er erhalten sollte, zu Recht als "das
Letzte an
Beleidigung" bezeichnet (The Final Insult), und viele andere haben sie
genau als das empfunden.
Sechstens, und das ist ein besonders bedrückendes
Kapitel in dieser
Geschichte, das Verhalten der Masse der deutschen Bevölkerung.
Die deutschen
Konzerne und ihre Regierung hätten niemals mit einer solchen
Unverfrorenheit
vorgehen können, wenn eine Bevölkerungsmehrheit
dieses Landes erklärt hätte:
Schluß jetzt mit diesem würdelosen Gezerre auf
Kosten der Opfer, die verdammte
Industrie soll endlich zahlen. Aber es war eine verschwindende
Minderheit, die
so dachte und es auch sagte. Die ganz überwiegende Mehrheit
wollte endlich
einen "Schlußstrich unter die Vergangenheit" und
erklärte: Was kann
ich für das, was meine Eltern oder Großeltern getan
haben?
So gern sie das vom Großvater gebaute Haus erbten -
sofern es schuldenfrei
war - , so ungern erinnerten sie sich jenes historischen Erbes, das
ihnen ihre
Eltern und Großeltern in Gestalt unbezahlter Rechnungen,
darunter nicht
gezahlter Entschädigungen, hinterlassen hatten. Diese nahezu
vollständige
Abwesenheit antifaschistischen Bewußtseins in der deutschen
Bevölkerung war es,
die den deutschen Konzernen und ihrer Regierung ein derartiges Vorgehen
ermöglichte.
Volk der kalten Herzen
Daran änderten auch die in den Jahren 1998 bis 2001
geführten
Auseinandersetzungen nichts, obwohl der Tenor in den Medien ein
partiell
durchaus anderer gewesen war, insbesondere in Teilen der lokalen
Presse. Woche
für Woche berichteten sie über kleine und
große Firmen, über kommunale wie
private, über Sozial- und Pflegedienste, kirchliche wie
kommunale, Lehr- und
Forschungseinrichtungen usw. usf., die noch heute existieren und zu
deren
"Personal" damals regelmäßig
Zwangsarbeitskräfte zählten. Wenn der
Historiker Ulrich Herbert meinte: "Wir suchen noch immer nach einer
einzigen Firma, die damals keine Zwangsarbeiter beschäftigt
hat", so hatte
er zwar recht, aber auch das ließ einen Großteil
der Bevölkerung kalt.
In Anspielung auf Wilhelm Hauffs Märchen "Das kalte
Herz" und eher
zu- als überspitzend, schrieb die aus dem mexikanischen Exil
zurückgekehrte
Schriftstellerin Anna Seghers im Juni 1947, sie lebe "hier im Volk der
kalten Herzen". Von diesen kalten Herzen wurde im Geiste des
gewöhnlichen
Faschismus oder auch des Extremismus aus der Mitte der Gesellschaft in
den an
Stammtischen geführten Entschädigungsdebatten
entweder gemeint, daß die meisten
der ehemaligen Zwangsarbeitskräfte aus Osteuropa stammten,
also "sowieso
bloß Russen und Polacken" seien, oder aber es wurde einfach
behauptet, daß
das "alles Juden" seien.
Einzelne, übrigens aus allen im Bundestag vertretenen
Parteien, sprachen
gegen die Stammtischparolen des gewöhnlichen Faschismus und
für eine anständige
Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeitskräfte,
organisierten
antifaschistische Aktionen auch auf diesem Feld usw. Sie waren
übrigens nicht
nur im Parlament aktiv, sondern auch und vor allem in Redaktionsstuben
und
Betriebsräten, in örtlichen Initiativen und
Antifagruppen - leider mit sehr
geringem Erfolg, denn das Gros der deutschen Bevölkerung
strebte keine
Entschädigungszahlung an, sondern einen Schlußstrich.
Gerade
weil sich diese
Mehrheit damals faktisch durchgesetzt hatte, sind solche Einrichtungen
wie die
Gedenkstätte Ahrensbök und die vielen anderen in
diesem Lande von enormer
Bedeutung. Sie sind es nicht nur im Sinne einer mahnenden und
erinnernden
Gedenkkultur, sondern auch und vor allem, um aus dieser Arbeit heraus
einen
aktiven Einfluß auf das politische Denken und Handeln in der
Gegenwart zu
nehmen. |